Wie Geschichte als politisches Werkzeug missbraucht wird

Geschichte, die als politisches Instrument missbraucht wird, war Thema eines Seminares des Presseclubs Concordia und dem FJUM. Dort erklärten vier Historiker, wie Geschichte dazu verwendet werden kann, die eigene politische Agenda voranzutreiben.

„Geschichte wird von den Siegern geschrieben“ ist ein Zitat, das oft Winston Churchill zugeschrieben wird, der das so allerdings nie gesagt hat. Das Zitat und seine Entstehung zeigen, wie Geschichte politisch aufgeladen und verwendet werden kann. Churchill sprach nämlich nur davon, die Geschichte selbst schreiben zu wollen. Der Spruch selber ist viel älter. Er wurde schon 1746 in Schottland verwendet, später im Französischen und Italienischen gefunden. Hermann Göring brachte eine Variante davon bei den Nürnberger Prozessen.

Geschichte als politisches Instrument ist also nicht neu. Ihr Missbrauch war das Thema eines Seminares des Presseclubs Concordia und dem Forum Journalismus und Medien Wien (FJUM) am 30. Juni. Dort erklärten vier Historiker, wie Geschichte dazu verwendet werden kann, um die eigene politische Agenda voranzutreiben.

Spaniens „Pakt des Vergessens“

Der Historiker Alejandro Quiroga unterrichtet an den Universitäten in Madrid und Newcastle. Er beschäftigt sich mit Nationalismus in Spanien und ist Co-Autor des Buches „The Reinvention of Spain: Nation and Identity since Democracy“.

  • Der Pakt des Vergessens: Die Franco-Diktatur (1936-1975) zeigt heute noch seine Auswirkungen auf das Geschichtsverständnis in Spanien. „Es ist das Herz, wie Geschichte heutzutage politisch verwendet wird“, sagt Quiroga. Beim Übergang von Diktatur parlamentarischer Monarchie habe man sich darauf geeinigt nicht über den Krieg und die Franco-Diktatur zu sprechen. Und: „Sie haben sich auch darauf geeinigt die spanische Geschichte nicht als politische Waffe zu verwenden.“
  • Es war die Zivilgesellschaft, die gegen das kollektive Vergessen aufgetreten ist: Wissenschaftler:innen haben immer wieder Massengräber gefunden und untersucht. In Spanien sind unter Franco über 100.000 Menschen verschwunden. Mit Beginn des 21. Jahrhunderts hat dann auch die spanische sozialistische Partei begonnen die Geschichte der spanischen Volkspartei zu kampagnisieren.
Ein Massengrab aus dem spanischen Bürgerkrieg 1936. Bild: Mario Modesto Mata (CC SA 4.0)
  • 2007 kam ein „Gesetz zur geschichtlichen Erinnerung“, das zur Aufarbeitung der Geschichte beitragen sollte. Die konservative Partei war dagegen, weil sie keine „alten Wunden aufreißen“ wollte und ignorierte es, doch zu diesem Zeitpunkt gab es schon eine politische Aneignung: Einige Historiker:innen hätten laut Quiroga die Mythologie des Franco-Regimes übernommen und seine Machtübernahme 1936 verharmlost. Diese Narrative würden in einem direkten Zusammenhang mit dem Auftreten der rechtsextreme Partei VOX in Spanien stehen.
  • Auch die konservative Partei wollte die Geschichte für sich verwenden: Im November 2019 wurden in Madrid hunderte Gedenktafeln mit Namen von Opfern der Franco-Diktatur nach dem Bürgerkrieg entfernt. Die Volkspartei von Madrid wird von Vox unterstützt.
  • „Ultranationale Erzählungen attackieren im Namen einer mythischen Geschichte ganz offen unsere demokratische Gesellschaft“, so Quiroga.

Russland und die „Religion des Sieges“

Sergei Medvedev ist Historiker an der Free University Moskow, einer kostenlosen Universität, die sich über Spenden finanziert, und Autor des Buches „The Return of the Russian Leviathan“, für das er einen Pushkin Buchpreis bekommen hat.

  • Russland als „Retro-Staat“: Die Politik bezieht sich seit 20 Jahren nur noch auf die Vergangenheit. Das liegt auch daran, dass die russische Demokratie und Zivilgesellschaft seit den 2000ern wieder abmontiert worden sei, so Medvedev. In Russland fehle es an einem Glauben in eine Zukunft, weshalb die Propaganda-Maschine Putins die Vergangenheit verwende. Bezeichnet wird das als „Retrotopia“, eine Mischung aus Retro und Utopie, also eine Utopie, die Russland in der Vergangenheit gewesen sein soll.
  • Welche Periode der russischen Geschichte diese Utopie war, hängt von den konkreten Zielen der Propaganda ab: Es geht entweder um das 19. Jahrhundert oder um 1945, als Russland „siegreich halb Europa seinen Willen aufgezwungen“ habe, sagt Medvedev.
  • Vladimir Putins Missbrauch der Geschichte wird als „Projekt der Erinnerung“ bezeichnet und dreht sich um die „Religion des Sieges“, wie es Medvedev und andere Historiker:innen bezeichnen. Das wichtigste Datum ist der 9. Mai 1945, der Tag, an dem Deutschland kapitulierte. Die Idee des Siegens wurde zu einer Ideologie des russischen Staates, der damit bis heute Geschichtsfälschung oder Unterdrückung rechtfertigt.
  • „Krieg bedeutet in Russland nicht mehr Leid und Tod, sondern Sieg“, so Medvedev. Vor einer Generation gab es in Bezug auf Krieg das Motto „Lass nie wieder Krieg herrschen“, heutzutage gibt es stattdessen das Motto „Wir können es wiederholen“. Gemeint ist damit der Sieg über Nazi-Deutschland. Der 9. Mai 1945 gilt heutzutage als Geburtsdatum des russischen Staates. Das zeige, wie sehr Krieg an die Ideologie Russlands gebunden sei, sagt Medvedev.
  • Einzelne Episoden der Geschichte werden geradezu zu religiösen Mythen umfunktioniert: Es gibt die Erzählung der 28 Panfilov-Helden, einer Gruppe von Soldaten, die bei der Verteidigung Moskaus gefallen aber 18 deutsche Panzer vernichtet hätten. Vor einigen Jahren hat sich herausgestellt, dass das nie passiert ist, sondern nur sowjetische Propaganda war. Der Kulturminister hat sich daraufhin entschieden, die 28 Panfilov-Helden weiterhin zu feiern, um „sie der russischen Bevölkerung nicht wegzunehmen“. Propaganda aus 1942 wird weiterhin so behandelt, als wäre es wirklich passiert.
  • Als russische Truppen in der Krim einmarschiert sind und pro-russische Separatisten in der Donbass-Region zu kämpfen begonnen haben, hat sich Putin wieder der Erzählung des zweiten Weltkrieges bedient: Die Ukraine war plötzlich faschistisch und die Menschen auf der Krim mussten befreit werden. In Donbass hätten pro-russische Separatisten Gefangene nach den Gesetzen von Stalin aus 1941 ermordet. „In 2014 wurden Menschen auf Befehl Stalins exekutiert“, so Medvedev.
  • Um den 75. Jahrestag des Endes des zweiten Weltkrieges zu feiern, hat Putin einen eigenen Armee-Tempel bauen lassen: 75 Meter hoch und Stufen aus deutschen Kriegsrelikten. Ein Mosaik von Stalin, Putin und Verteidigungsminister Shoigu musste nach Protesten der Bevölkerung wieder entfernt werden.
Das Innere des Armee-Tempels. Foto: Mil.ru (CC BY 4.0)
  • Im Juli 2020 wurde ein Zusatz zur russischen Verfassung verabschiedet, der die „historische Wahrheit verteidigen“ soll. Was genau das bedeutet und wer entscheidet, was historische Wahrheit sein soll, gibt es laut Medvedev nicht.

Polens „Politik der Erinnerung“

Piotr Buras ist Leiter des Warschauer Büros des Europäischen Rates für Außenpolitik. In seiner Forschung beschäftigt er sich vor allem mit Polens Rolle in der EU.

  • Die „Politik der Erinnerung“ ist in Polen eines der wichtigsten Werkzeuge der PiS-Partei („Recht und Gerechtigkeit“) geworden. Diese „Politik der Erinnerung“ ist als Reaktion auf eine liberale Zeit in den 1990ern zu sehen, in der man sich in Polen durchaus kritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinander gesetzt hat, die davor noch tabuisiert gewesen sei, meint Buras.
  • Als 1999 in Deutschland das Zentrum gegen Vertreibungen gegründet wurde, bekam das in Deutschland kaum einer mit, in Polen führte das aber zu viel Aufregung. Teile der polnischen Elite glaubten, dass Deutschland seine Vergangenheit neu erfinden und sich als Opfer des zweiten Weltkriegs wolle. Mit Geschichte Politik machen wurde ein Thema.
  • Mit dem Regierungsantritt der PiS-Partei haben auch Lügen zur polnischen Vergangenheit zugenommen. Es sollten sogar Aussagen unter Strafe gestellt werden, dass Polen auch für Verbrechen im zweiten Weltkrieg verantwortlich waren. Die Argumentation war, dass solche Verbrechen nur von deutschen oder russischen Truppen begangen worden sind. Erst Sanktionsandrohungen der USA haben diese Gesetzesinitiativen gestoppt.
  • Auch ohne Gesetzesinitiative gibt es ganz klare Narrative, die gefördert werden: Die polnische Vergangenheit wird vorwiegend positiv dargestellt, eine Ausstellung zum zweiten Weltkrieg wurde von der Regierung übernommen und die „Ausstellung wurde auf die politischen Ziele ausgerichtet“, sagt Buras.
  • Der Bildungsminister Przemyslaw Czarnek kündigte erst Ende Mai einen neuen Lehrplan für den Geschichtsunterricht an. Unter anderem soll die EU als „rechtsloses Gebilde“ dargestellt werden. Grund ist der Streit zwischen Polens Regierung und der EU wegen der polnischen Justizreform, die die Rechtsstaatlichkeit defacto abgeschafft hat. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Polens Höchstgericht als „rechtswidriges Tribunal“ bezeichnet.
2011 bekamen die „verfluchten Soldaten“ ein eigenes Denkmal. Bild: Lowdown (CC SA 3.0)
  • Der Mythos der „verfluchten Soldaten“: Die sogenannten „verfluchten Soldaten“ waren Widerstandskämpfer nach dem zweiten Weltkrieg, die gegen die Kommunisten gekämpft haben. Die Gruppe war sehr durchmischt, setzte sich aber auch aus Faschisten und Rechtsextremen zusammen. Die Gruppe wurde in den 2000ern wiederentdeckt und von der PiS-Partei instrumentalisiert. Sie entwickelte den Mythos einer Gruppe, die kompromisslos für die Freiheit Polens gekämpft hat. PiS zieht auch eine Parallele zwischen sich und dem Mythos, um sich zur Partei zu stilisieren, die Polen nach dem Kommunismus und der liberalen Ära der Neunziger die echte Freiheit gebracht hat.
  • Gleichzeitig wird so der Kompromiss zwischen Kommunisten und Opposition nach Ende der Sowjetunion in Frage gestellt. Die Ideologie der PiS-Partei richtet sich gegen die Entwicklung Polens in den Neunzigern. Mit der Glorifizierung der „verfluchten Soldaten“ würde dies untermauert werden, so Buras. „Hier haben wir einen klaren Missbrauch der Geschichte, der den eigenen politischen Zielen dienen soll.“

Kroatiens ideologischen Geschichtsinterpretationen

Hrvoje Klasić von der Universität von Zagreb schreibt über die jüngere Vergangenheit Kroatiens und bekommt für seine kritische Auseinandersetzung Todesdrohungen.

  • Die Geschichtsaufarbeitung in Kroatien war laut Klasić seit 1945 ideologisch geprägt: Anti-Faschismus und die kommunistische Partei standen bis 1990 im Fokus. „Bildung war ideologisch, selektiv und tendenziös – manche Aspekte wurden betont, andere vernachlässigt und andere komplett ignoriert“, sagt Klasić. Daraus ist auch eine durchgängige geschichtliche Narrative entstanden, die Yugoslavien glorifizieren sollte und zu einer Gut/Böse-Erzählung geführt hat.
  • Das gleiche ist auf der anderen Seite passiert: Viele Unterstützer:innen des Ustasha-Regimes sind nach Südamerika geflüchtet. Ihre Geschichtserzählung war genauso strukturiert, nur andersrum erzählt. Hier war die Ustasha gut, die Kommunist:innen und Yugoslaw:innen böse. „Das Ziel war eine Glorifizierung des kroatischen Staates und eine Dämonisierung Yugoslawiens“, so Klasić.
  • Nach dem Ende der Sowjetunion kamen viele politische Emigrant:innen zurück und hatten in der kurzen demokratischen Periode vor dem Yugoslawien-Krieg laut Klasić viel Einfluss auf die Re-Evaluierung der Geschichte. Das führte erneut zu einer einseitigen Narrative, die im Yugoslawien-Krieg vermehrt eingesetzt wurde: die Ausrichtung sei aber nationalistisch mit dem Ziel einer kroatischen Identität gewesen, so Klasić.
  • Die Folgen sind bis heute zu sehen: Extrem nationalistische Persönlichkeiten aus den Neunzigern wurden später zu Ministern, Parlamentariern oder Fernsehpersönlichkeiten. Die Kirche hält für den Gründer der faschistischen Ustascha-Bewegung Ante Pavelić einen jährlichen Gottesdienst ab und unterstützt rechtsextreme Parteien. Politiker, die 1941 Rassen-Gesetze verabschiedeten, haben Straßen nach sich benannt bekommen. „Es ist normal, dass es Diskussionsveranstaltungen zur Holocaust-Verleugnung gibt“, meint Klasić.
  • Zwischen 1990 und 2000 wurden 3.500 der 6.000 Denkmäler zerstört, die zum Gedenken des 2. Weltkrieges und den antifaschistischen Bewegungen entstanden sind. Unangenehme Bücher wurden aus Bibliotheken entfernt, Straßen, die nach Antifaschist:innen benannt waren, wurden plötzlich in Ustascha-Politiker unbenannt.
Die 1968 erbaute Statue in Kamenska wurde 1992 gesprengt.
  • Heutzutage ist die Situation laut Klasić noch immer problematisch, wenn auch besser. Yugoslawien wird noch immer als negatives Kapitel der kroatischen Geschichte dargestellt, Unterschiede zu anderen ethnischen Gruppen betont und der als „Heimatland-Krieg“ bezeichnete Yugoslawien-Krieg gilt als positiv – eine Erzählung, die in der jetzigen Form keinen Dialog zulässt. „Im Umgang mit Geschichte fehlt es in Kroatien an Objektivität, mehreren Sichtweisen und Empathie. Man spricht nur von ‚unseren Opfern‘ und ‚deren Kriegsverbrechern'“, sagt Klasić.