Wenn das Parlament nicht liefert, sind Bürger:innen für Alternativen offen

Eine Studie hat untersucht, in welchen Situationen Bürger:innen Entscheidungen nicht dem Parlament überlassen würden, sondern lieber auf Expert:innen oder Volksbefragungen vertrauen. Dabei stellt sich heraus: Menschen entscheiden sich zumeist so, dass ihre eigenen Standpunkte durchgesetzt werden.

Der Anlass: Eine Studie hat untersucht, in welchen Situationen Bürger:innen Entscheidungen nicht dem Parlament überlassen würden, sondern lieber auf Expert:innen oder Volksbefragungen vertrauen. Die Ergebnisse wurden im wissenschaftlichen Magazin Comparative Political Studies veröffentlicht. Die Autor:innen sind von Universitäten in London, Zürich, Bern und Salzburg.

Die Ergebnisse des Forscher:innenteams:

  • Die Studie bestätigt frühere Forschungsergebnisse: Menschen wollen im politischen Entscheidungsfindungsprozess eigentlich nur dann involviert sein, wenn sie mit dem derzeitigen Ergebnis unzufrieden sind.
  • Bürger:innen wollen die Entscheidung vor allem dann nicht dem Parlament überlassen, wenn sie mit dem Status Quo unzufrieden sind. Wo sie den Ist-Zustand gut finden, kann alles bleiben, wie es ist. „Wenn Einzelpersonen eine Politik bevorzugen, die weiter vom Status quo entfernt ist, ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass sie die parlamentarische Politikgestaltung unterstützen“, schreiben die Forscher:innen.
  • Expert:innen werden vor allem dann von Bürger:innen als gute Alternative gesehen, wenn beide den gleichen Standpunkt haben. Bei Expert:innen mit einer anderen Meinung, wollen Bürger:innen lieber eine Volksbefragung. Die Studienergebnisse würden laut Autor:innen auch nahelegen, dass Expert:innen „nicht als wirklich unabhängig von Politik und dem Status Quo“ wahrgenommen werden.
  • Volksbefragungen werden dann bevorzugt, wenn die eigene Meinung mit der Mehrheitsmeinung übereinstimmt. Hier ist die Studie aber auf einen Widerspruch gestoßen: Liberal eingestellte Bürger:innen würden sich auch dann für eine Volksbefragung aussprechen, wenn die Mehrheitsmeinung eine andere ist. Konservativ eingestellte Menschen überlassen die Entscheidung im gleichen Fall lieber dem Parlament. „Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass Liberale stärker der Ansicht sind, dass Bürger:innen einbezogen werden und Ergebnisse unabhängig von ihren eigenen Vorlieben akzeptieren sollten“, vermuten die Studien-Autor:innen.
  • Der generelle Zuspruch für parlamentarische Entscheidungen war unter den 6.318 Befragten generell gering – unabhängig davon, ob das Parlament den gleichen Standpunkt vertritt.
  • Die Studienergebnisse legen nahe, dass über die Einstellung zu Demokratie neu nachgedacht werden muss: Ob sie für oder gegen repräsentative/direkte Demokratie sind, machen Bürger:innen auch stark vom Thema abhängig. „Da keine themenspezifischen Begründungen für die Delegierung von Referenden in Betracht gezogen werden, unterscheidet die bisherige Forschung die Unterstützung für die direkte Demokratie nicht vollständig von der Unterstützung für politische Maßnahmen in wichtigen Themenbereichen“, schreiben die Autor:innen.

Aussagen, ob Bürger:innen bei spezifischen Fragen Expert:innen oder Volksbefragungen vorziehen (etwa bei der Parteienfinanzierung) lassen sich nicht treffen.

Warum das wichtig ist: Die repräsentative Demokratie wird immer wieder kritisiert – sei es von Populist:innen oder frustrierten Bürger:innen. Sie hinterfragen die sogenannte „chain of delegation“, also wen Bürger:innen über politische Maßnahmen entscheiden lassen sollten. Auch Expert:innen kritisieren diese „chain of delegation“ vereinzelt. Demokratiefeindliche Gruppierungen, die immer wieder vom „Willen des Volkes“ sprechen, sehen das als Chance, ihre Agenda zu verbreiten.

Das führt über längere Zeit zu einer Schwächung des Systems, obwohl die Kritik von einer relativ kleinen Gruppe kommt, die nicht mit dem System an sich unzufrieden sein muss, sondern mit den Ergebnissen. Um dem entgegenzuwirken, ist es wichtig zu verstehen, wo unser System Schwächen haben könnte und ob es Lösungen für diese Probleme gibt.

Wie die Studie funktioniert: Wähler:innen entscheiden durch Wahlen, wem sie ihre Macht borgen. Parlamente werden so zur zentralen Stelle, an denen politische Entscheidungen getroffen werden. So werden Entscheidungen einer Regierung oder des Nationalrates legitimiert, immerhin sind Abgeordnete Volksvertreter:innen. Sie sind aber nicht die einzige Möglichkeit, wie politische Entscheidungen zustande kommen können. Man könnte die Politik für einzelne Fragen auch von unabhängigen Expert:innen bestimmen oder über eine Volksbefragung ermitteln lassen.

Die Studien-Autor:innen Liam Beiser-McGrath (University of London), Robert Huber (Universität Salzburg), Thomas Bernauer (ETH Zürich) und Vally Koubi (Universität Bern) haben Bürger:innen in England, Deutschland und der Schweiz befragt und dabei Themen ausgesucht, die allesamt emotionalisieren: Migration, Atomkraft und Marihuana-Legalisierung. Sie wurden auch deshalb ausgesucht, weil sie von den Befragten als unterschiedlich wichtig eingestuft wurden: Migration wurde als das wichtigste, Marihuana als das unwichtigste Thema wahrgenommen.

Studien-Teilnehmer:innen bekamen in einem ersten Schritt Informationen zu einem Thema und mussten auf einer Skala die eigene Position angeben. Danach wurden sie mit der Position von Expert:innen konfrontiert und mussten Fragen beantworten. Damit gingen die Forscher:innen sicher, dass die Teilnehmer:innen verstanden haben, worum es geht. Am Ende musste die Befragten schlussendlich entscheiden, ob Parlament, Expert:in oder Volksbefragung das geeignete Mittel ist.

Wie es weiter gehen könnte: Der nächste Schritt könnte eine Untersuchung der Frage sein, wie sich Menschen bei nicht so emotionalisierenden Themen entscheiden. Daraus könnte sich ablesen lassen, ob Menschen sich selbst dann für Werte wie repräsentative oder direkte Demokratie entscheiden, wenn sie wissen, dass ihre Präferenzen nicht durchgesetzt werden.

Es könnte aber auch der große Zuspruch zu Volksbefragungen untersucht werden. Man könnte so erforschen, wie Bürger:innen zu ihrer Vorstellung kommen, was die Mehrheit möchte und was nicht – und wo die Grenzen einer Befragung sind. Hier stellen sich Fragen der Komplexität des Problems, der Informationsvermittlung aber auch der Minderheitenrechte.