Lajos Kósa war Bürgermeister des Dorfes Rákóczifalva, einer 5.000-Einwohner:innen-Gemeinde 115 Kilometer südöstlich von Budapest, bevor er im Oktober 2019 das Handtuch warf. Im Interview mit der ungarischen Transparenz-NGO Atlatszo berichtet der Ex-Politiker, wie er die Arbeitsweise von in Ungarn regierenden Partei Fidesz miterlebt hat. Er erzählt von einer „kontrollierten Verteilung von Geld“, angeblich geschobenen Auftragsvergaben, EU-Geldern, die ihren Weg zu parteinahen Firmen finden und Entscheidungen, die in der Therme auf der anderen Seite des Flusses getroffen worden sein sollen.
Warum das wichtig ist: Kósa beschreibt, wie Korruption auf lokaler Ebene funktioniere. Entscheidungen würden von einer Gruppe Parteimitglieder getroffen und Bürgermeister:innen zum Mitmachen gedrängt werden. Wenn das nicht funktioniere, würde ihnen die Arbeit so schwer wie möglich gemacht werden, zum Nachteil der Gemeinde und den Menschen, die in Rákóczifalva leben.
Außerdem stammen manche Förderungen, die laut Kósa zweckentfremdet wurden, aus dem EU-Haushalt, es geht also auch um Geld aus Österreich. Ungarn beteiligt sich auch nicht an der Europäischen Staatsanwaltschaft EPPO, die ihre Arbeit im Juni aufgenommen hat und Korruption und Missbrauch von EU-Förderungen untersuchen soll. Expert:innen warnten schon damals, dass der Missbrauch von EU-Geldern deshalb nicht so effizient ermittelt werden kann.
Worum es grundsätzlich geht: Ungarn liegt im Corruption Perception Index der NGO Transparency International weltweit auf dem 69. Platz. Zum Vergleich: Österreich liegt auf Platz 15, Ungarn lag im Jahr 2012 noch auf Platz 46. Laut Erhebungen in der EU mussten 17 Prozent jemanden bestechen, um eine staatliche Leistung in Anspruch nehmen zu können – nur Bulgarien und Rumänien haben noch höhere Werte.
Was passiert ist: Bevor Lajos Kósa Bürgermeister wurde, war Kósa in der kleinen Gemeinde Rákóczifalva im Gemeinderat. Zuerst als Unabhängiger, wurde er Mitglied von Viktor Orbáns Fidesz-Partei, die Ungarn seit 2010 regiert. Als er 2014 zum Bürgermeister gewählt wurde, schlug ihm ein Kreis mächtiger Fidesz-Mitglieder aus der Region den Wirtschaftsexperten Imre Túróczi als Mentor vor.
Kósa willigte ein, machte ihn zu seinem Gemeindeamtsleiter und merkte bald, wie ihn Túróczi beeinflussen wollte: Auf seinen Vorschlag wechselte Kósa die Vorsitzenden der Gemeindeausschüsse aus und bekam von seinem „Mentor“ laufend Geschäftsleute und Politikberater:inner vorbeigeschickt, die einen Gemeindeposten übernehmen sollten. Immer wieder sei er von verschiedenen Personen aus seinem Umfeld überredet worden unnötige und überteuerte Projekte zu finanzieren. Erst, als er sich weigerte, das weiterzumachen, sei es problematisch geworden, sagt Kósa gegenüber Atlatszo.
- Mitglieder der Fidesz-Bezirksleitung sollen sich mit Bürgermeistern, Kommunalvertretern und Unternehmern immer wieder in einem Kurort getroffen haben, um sich zu beraten. Dort würden laut Kósa die wichtigen Entscheidungen getroffen werden.
- Bei mehreren Projekten in der Region soll die regionale Fidesz-Führung versucht haben, die Auftragsvergabe zu beeinflussen und Druck ausgeübt haben, damit die Gemeinde gewisse Grundstücke kauft oder verkauft. In einem Fall soll er gezwungen worden sein Immobilien zu kaufen, ohne danach genug Geld für die notwendige Renovierung zu haben.
- Ein anderes Mal wollte die Gemeinde ein Projekt auf einem eigenen Grundstück verwirklichen. Seit Jahren habe der Mieter des Grundstücks keine Miete mehr gezahlt. Kósa soll ausgerichtet worden sein, dass er den Mieter in Ruhe lassen und stattdessen einem Gemeinderat aus einer anderen Gemeinde dessen Grundstück abkaufen soll.
- Als der Kindergarten ausgebaut werden sollte, plante Kósa eine öffentliche Ausschreibung. Ein Nationalratsabgeordneter von Fidesz soll ihm nicht nur gesagt haben, welche Firma den Auftrag bekommen soll, sondern auch die Telefonnummer gegeben haben.
- Als Rákóczifalva kurz vor der Pleite stand, soll die Fidesz-Regionalregierung einen Bankkredit verhindert haben, indem sie den Antrag nicht unterstützt hat. Stattdessen sei ihm vorgeschlagen worden, Förderungen für die laufenden Kosten zu verwenden, so Kósa.
- Ein stellvertretender Staatssekretär aus dem Innenministerium soll ihm vorgeschlagen haben, ein Heimatmuseum zu bauen. Dafür seien Kósa Wege vorgeschlagen worden, mit denen er Förderungen für Dinge hätte zu verwenden, die sonst nicht möglich gewesen wären.
- Er sei auch von Verbindungsmännern kontaktiert worden, die für Viktor Orbáns Bruder einen Kontakt herstellen wollten. Áron Orbán soll ihm seine Hilfe angeboten haben, damit die Gemeinde „erfolgreiche Anträge“ stellen könne, so Kósa.
Was nach der Zeit als Bürgermeister passiert ist: Atlatszo hat die genannten Personen um Stellungnahmen gebeten. Sie haben entweder nicht geantwortet oder alles bestritten. Laut eigenen Aussagen war niemand bei den informellen Treffen in einer Therme mit dabei.
Kósas „Mentor“ Túróczi ist heute Rákóczifalvas Bürgermeister. Er hat auch das Heimatmuseum bauen lassen. Einem Interview mit Atlatszo stimmte er zuerst zu, sagte es allerdings ab, als er hörte, worum es gehen sollte.
Im Frühling 2020 hat Kósa der Staatsanwaltschaft von seinen Erfahrungen erzählt. Mehrere von ihm benannte Personen reagierten mit Anzeigen wegen Verleumdung. Im Jänner 2021 wurde er von der Steuerbehörde als Verdächtiger einvernommen. Es geht um eine falsche Verwendung von Förderungen, die Kósa verwendet hat, um den Betrieb der Gemeinde aufrechtzuerhalten. Eine Vorgangsweise, die ihm von Fidesz-Politikern vorgeschlagen wurde, nachdem sie einen Kritikantrag der Gemeinde nicht unterstützt hatten. Das könnte Kósa jetzt zum Verhängnis werden, die Ermittlungen laufen noch.