Russlands Strategie gegen friedliche Proteste

Friedliche Massenproteste stellen sind für autokratische Länder eine große Gefahr. Russland hat einen Weg gefunden, gegen solche Farbrevolutionen vorzugehen. Den Bewegungen werden ihre demokratischen Ambitionen abgesprochen und sie werden als Kampagnen anderer Länder dargestellt. Das ermöglicht dem Kreml sogar militärische Schritte.

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Foto: Sasha Maksymenko (CC-BY-2.0) | Montage: Res Publica

6. Jänner 2021. Bewaffnete Trump-Unterstützer:innen stürmen das US-Kapitol. Sie sprechen von einer Revolution. Die Reaktion der meisten Länder? Schock. Die Reaktion aus Russland? Dort nutzt man genüsslich die Geschehnisse, um die USA zu attackieren – und die eigene Politik zu legitimieren.

Die Pressesprecherin des Außenministeriums nennt das Wahlsystem der USA “archaisch”, das keinen modernen demokratischen Standards entsprechen würde.

”Es ist klar, dass die amerikanische Demokratie mit beiden Füßen hinkt”, sagt der Leiter des Außenpolitischen Komitees des russischen Föderationsrates, Konstantin Kosachyov. Amerika habe nun kein Recht mehr, anderen Ländern ein demokratisches System aufzubürden, so Kosachyov weiter.

In die gleiche Kerbe schlägt auch Leonid Slutsky, Kosachyovs Pendant im russischen Unterhaus: “Die Vereinigten Staaten können nun sicher keine Wahlstandards in anderen Ländern einfordern. Oder sich als ‘Leuchtturm der Demokratie’ in der Welt bezeichnen.” Offiziell sind die USA in den Augen Russlands nun selbst ein Opfer von etwas geworden, das sie in anderen Ländern selbst mehrfach ausgelöst hätten: einer Farbrevolution.

Russlands Angst vor Farbrevolutionen

Farbrevolutionen beschreiben eigentlich friedliche Massenproteste einer unbewaffneten Bevölkerung. Wo Hunderttausende Menschen tage-, wochen- und monatelang auf die Straße gehen und für mehr Demokratie demonstrieren, gerät eine Regierung schnell unter erheblichen Druck. Und: Wenn diese Demonstrationen auch noch friedlich ablaufen, ist der Einsatz von Gewalt schwer zu rechtfertigen.

In den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts gab es mehrere solcher Proteste. Vor allem in ehemaligen Staaten der Sowjetunion. Russland hat bei den erfolgreichen Massenprotesten in Georgien, Kirgisistan oder der Ukraine nicht nur eigenen Einfluss verloren, sondern erkannt, wie schnell eine Regierung unter Druck geraten kann. Und in den internationalen Fokus.

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Wiktor Janukowytsch wurde nach wochenlangen Protesten der „Orangefarbenen Revolution“ 2004 nicht Präsident der Ukraine. Er gewann die Präsidentschaftswahl 2010.

Als hunderttausende Menschen in der Ukraine 2004 zur “orangefarbenen Revolution” aufriefen, forderten sie ein Ende von Korruption und Wahlmanipulationen.

Ein Jahr zuvor führte die georgische “Rosenrevolution” zum Rücktritt des damaligen Präsidenten. Das gleiche passierte 2005 in Kirgisistan. Präsident Askar Akajew unterzeichnete sein Rücktrittsgesuch damals in Russland – dort hatte er Asyl bekommen.

In Weißrussland stellten sich 2006 nach einer manipulierten  Präsidentschaftswahl mehrere tausend Menschen gegen Präsident Alexander Lukaschenko.

Die Forderungen waren immer dieselben: faire Wahlen, weniger Korruption, mehr Mitsprache. Kurz: mehr Demokratie.

Die Gegenmaßnahmen

Für den Kreml wurden Farbrevolutionen zu einem Risiko, das nicht nur Russlands Einfluss in der Region gefährdet, sondern auch die russische Bevölkerung auf dumme Ideen bringen könnte. Nach Massenprotesten in Russland 2011 und 2012 wurden strengere Gesetze für Demonstrationen beschlossen, Proteste teilweise gewaltsam aufgelöst und zig Oppositionspolitiker:innen verhaftet, darunter auch Alexej Nawalny. 

In wissenschaftlichen Artikeln wird vor allem die “orangefarbene Revolution” als Wendepunkt in Russlands Denken hervorgehoben. Danach waren Farbrevolutionen Thema in der russischen Politik und im Militär. 

Der Kreml setzte zwei Schritte:

  1. Farbrevolutionen wurden zum Teil einer westlichen Kriegsführung erklärt.
  2. Als Reaktion darauf wurden militärische Reaktionen im In- und Ausland in den Raum gestellt.

1. Eigene Begriffsdefinition einführen

Putin bezeichnet Farbrevolutionen als Teil der “nicht-militärischen Kriegsführung” und als “Werkzeug zur Destabilisierung einer Gesellschaft”. Bei einer vom russischen Verteidigungsministerium organisierten Sicherheitskonferenz gab es 2014 eine koordinierte Kampagne von russischen und belarussischen Sicherheitsexperten, die Farbrevolutionen als kriegerisches Instrument des Westens einordneten.

Diese Einordnung ist wichtig: Wer Farbrevolutionen als aus dem Ausland orchestriert bezeichnet, spricht Protestierenden die Forderung nach mehr Demokratie ab. Aus Aktivist:innen werden so Werkzeuge einer fremden Macht, die sich benutzen haben lassen. 

“There will always be a traitor who will open the city gates for gold.”

A.S. Brychkov & G.A. Nikonorov, 2014

In einem Beitrag für das russische “Journal of the Academy of Military Science” sprechen die Autoren von Verräter:innen, die sich kaufen lassen würden. Von den USA, die an den schlechten Beziehungen zwischen der EU und Russland schuld seien. Und von George Soros, der seine Finger im Spiel habe – eine antisemitische Verschwörungstheorie. Internationale Organisationen wie die UN und die OSZE seien außerdem Werkzeuge einer transnationalen Finanzelite.

So wird jede Unterstützung einer internationalen NGO zum Beweis einer feindlichen Kampagne. In Russland werden Organisationen, die Geld aus dem Ausland bekommen, als “ausländische Agenten” bezeichnet.

2. Als Rechtfertigung für Waffeneinsatz verwenden

Wenn Farbrevolutionen Teil der Kriegsführung sind, dann kann man dagegen auch militärisch vorgehen. Diesen Standpunkt vertritt zumindest das russische Militär, das damit eine gewaltsame Auflösung von Massenprotesten im eigenen Land und militärische Interventionen in anderen Ländern rechtfertigt. Diese Interventionen bezeichnen russische Generäle als “Operationen zur Friedenssicherung”. 

“Western governments must take seriously the fact that Russia has upgraded its official messaging about colour revolutions and developed justifications for a military response – not least when seen alongside its growing willingness to use force abroad.”

Nicolas Bouchet, 2016

In einem Paper der ETH Zürich von 2016 werden westliche Länder davor gewarnt, prodemokratische Farbrevolutionen zu unterstützen. Grund sei die von Russland ausgegebene Politik, dass Anti-Regime-Proteste zu einer militärischen “Friedenssicherung” führen könnten.

Proteste nach Nawalnys Verhaftung

Die Verhaftung des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny am 17. Jänner 2021 hat in mehreren Städten Russlands zu Massenprotesten geführt. Laut Guardian waren Hunderttausende auf den Straßen, um die Freilassung Nawalnys zu fordern. Der Oppositionelle wurde bei der Rückkehr aus Deutschland verhaftet, wo er nach einem Giftanschlag behandelt wurde.

Bei den Demonstrationen kam es zu Massenverhaftungen und gewaltsamen Auflösungen von Kundgebungen, wie Reuters und Human Rights Watch berichten.

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Unter den mehr als 1.000 verhafteten Demonstrant:innen befand sich auch Nawalnys Frau.

Offiziell spricht Putin selbst von illegalen Protesten – aber (noch) von keiner Farbrevolution. Das wird mit Verweisen auf Proteste, die zum Ende der Sowjetunion geführt haben sollen, nur angedeutet.

“Everyone has the right to express their point of view within the framework provided by the law. Anything outside the law is not just counter-productive, but dangerous.”

Wladimir Putin, 25. Jänner 2021

Sein Pressesprecher reagierte auf Kritik der USA und sprach von einer “Einmischung in interne Angelegenheiten”. Die Pressesprecherin des Außenministeriums untermauerte das mit dem Vorwurf, dass US-Tech-Firmen die Proteste mit Pro-Nawalny-Inhalten beeinflussen würden.

Gleichzeitig laufen inoffiziell russische Desinformationskampagnen, die genau dieses Narrativ verbreiten sollen: Nawalny sei ein Instrument des Westens, das für Unruhe und Destabilisierung Russlands sorgen soll. Russische Medien rufen dazu auf, hart gegen Demonstrant:innen vorzugehen, um “Russland zu verteidigen”.

Mehr Proteste, mehr Verhaftungen, mehr bilaterale Konflikte

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Die Dokumentation von Nawalnys Team mit deutschen Untertiteln. Credit: Correctiv

Am 19. Jänner 2021 veröffentlichte Nawalnys Team ein Video, das Putin mit einem Milliarden teuren Palast in Verbindung bringt. Daraufhin gab es noch mehr Anti-Putin-Proteste.

Anfang Februar wurde Nawalny von einem Gericht zu drei Jahren Haft verurteilt, weil er seine Bewährungsauflagen einer früheren Haftstrafe nicht eingehalten habe. Nawalny spricht von einem politisch motivierten Verfahren gegen ihn. Die Bewährungsauflagen habe er nicht einhalten können, weil er wegen eines Giftanschlags in Behandlung in Deutschland war.

Das Urteil führte zu weiteren Massenprotesten, die Polizei hat neben 1.000 Demonstrant:innen auch Nawalnys Frau und die oppositionelle Ärztin Anastasia Vasilyeva festgenommen. Ein Video ihrer Verhaftung ging viral, weil sie währenddessen Klavier spielte.

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Eine Vertraute Nawalnys spielte während der Polizeiaktion Klavier. Credit: Reuters | Alexandra Zakharova

Gleichzeitig wurden Videos von Festnahmen veröffentlicht, in denen Demonstrierende erniedrigt werden. Einer dieser Demonstranten war Gennady Shulga, der die russische Polizei hinter diesen Veröffentlichungen vermutet.

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Das Vorgehen der russischen Regierung hat auch Auswirkungen auf die bilateralen Verhältnisse: Nach Nawalnys Verhaftung wurde Russland von vielen Staaten kritisiert. Die Reaktion: Der Kreml wies Diplomat:innen aus Polen, Deutschland und Schweden aus dem Land aus. Die drei Länder reagierten und schickten ihrerseits russische Diplomat:innen zurück in die Heimat.

Das Österreichische Parlament hat sich am 26. März 2021 – also 68 Tage nach dessen Verhaftung und 51 Tage nach dessen Verurteilung – dafür ausgesprochen, dass sich Außenminister Alexander Schallenberg für Nawalnys Freilassung einsetzen soll.

Nawalny stand zwischenzeitlich am 17. Februar schon wieder vor Gericht. Er soll einen Veteranen beleidigt haben. Der Guardian spricht davon, dass seine Unterstützer:innen im Frühling wieder auf die Straße gehen und protestieren wollen.

Die Lage bleibt angespannt

So lange Russland friedliche Massenproteste als Gefahr für den eigenen Einfluss sieht, wird sich wenig an der Strategie ändern: von ausländischem Einfluss reden und mit militärischen Aktionen drohen. Bei steigenden Spannungen an der ukrainischen Grenze, einer angespannten Lage in Weißrussland und neuen Protest-Ankündigungen in Russland selbst, werden Farbrevolutionen ein Thema – und eine außenpolitische Rechtfertigung für militärische Einsätze – bleiben. Und Länder, die demokratische Bewegungen unterstützen, werden ihre eigenen Strategien im Umgang mit Russland entwickeln müssen.