Am 6. Oktober 2021 ist es schließlich so weit: das Bundesamt für Korruptionsbekämpfung (BAK) durchsucht das Bundeskanzleramt, das Finanzministerium, die ÖVP-Parteizentrale, Verlagsräumlichkeiten des Gratisblatts „Österreich“ und einige private Räumlichkeiten.
Schon seit Wochen kursieren Gerüchte, dass es zu Hausdurchsuchungen kommen werde. Wie es zu diesen Gerüchten kam? Dazu später. Zuerst einmal der Verdacht der Staatsanwälte der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft, den sie im gerichtlich genehmigten Durchsuchungsbefehl auf 104 Seiten ausgeführt hat. Vorab: für alle beteiligten Personen gilt die Unschuldsvermutung – rechtlich gelten sie unschuldig, bis ein Gericht anders entscheidet.
„So weit wie wir bin ich echt noch nie gegangen“
Die WKStA vermutet Folgendes:
- Einzelne ÖVP-Mitglieder sollen 2017 im Auftrag von Sebastian Kurz bei einer Meinungsforscherin Umfragen in Auftrag gegeben haben, die sich damit befassen, wie gut die ÖVP bei Wahlen abschneiden würde, und mit welchem Spitzenkandidaten sie besser Chancen hätte.
- Diese Umfragen sollen nur parteipolitischen Wert für die ÖVP – genauer gesagt für Sebastian Kurz und den Zirkel rund um ihn – gehabt haben.
- Gleichzeitig sind diese ÖVP-Mitglieder beruflich hohe politische Mitarbeiter des Finanzministeriums: ein Kabinettschef, ein Pressesprecher und ein Generalsekretär des Finanzministeriums.
- Die ÖVP-Mitglieder haben die Umfragen aber nicht selbst bezahlt oder durch die ÖVP bezahlen lassen. Im Gegenteil: Sie sollen der Meinungsforscherin gesagt haben, sie soll die Kosten der Umfragen bei anderen Umfragen dazurechnen, die sie für das Finanzministerium durchgeführt hat. Darunter eine Studie zu „Betrugsbekämpfung“.
- Damit würde das Ministerium – eine Institution der Republik – für etwas bezahlen, was sie nicht bekommen hat. Und gleichzeitig der Zirkel um Sebastian Kurz eine Leistung erhalten, für die sie nichts bezahlt haben.
- Diese Umfragen sollen dann – teils manipuliert – in der Tageszeitung „Österreich“ platziert worden sein, während Herausgeber Wolfgang Fellner die dazugehörigen Inhalte sogar von den Auftraggebern aus dem Finanzministerium absegnen lassen habe. So der zweite Teil des Verdachts.
- Im Gegenzug sollen die gleichen Mitarbeiter des Finanzministeriums mit Geld des Finanzministeriums teure Inserate in Fellners Zeitung gebucht haben.
Sie sollen also die ihnen anvertraute Macht im Finanzministerium missbraucht und mit Steuergeld zuerst Umfragen gekauft haben, die nur Sebastian Kurz‘ innerstem Zirkel etwas bringen, und diese dann mit noch mehr Steuergeld in der Tageszeitung Österreich platziert haben.
Thomas Schmid, Kabinettschef im Finanzministerium, hat in einer SMS an den Pressesprecher des damaligen Finanzministers über Umfragen in der Österreich geschrieben: „so weit wie wir bin ich echt noch nie gegangen“.
Das „Projekt Ballhausplatz“
Warum sollen teils manipulierte Umfragen in der Österreich notwendig gewesen sein? Hier verlassen wir die strafrechtliche Ebene und wechseln zur politischen. Wir gehen ins Jahr 2016 zurück: Sebastian Kurz war zu dem Zeitpunkt noch Außenminister, Parteiobmann war Reinhold Mitterlehner und Bundeskanzler war Christian Kern (SPÖ). Kurz und seine engsten Vertrauten wollten ihn zuerst zum Parteichef und später zum Kanzler machen – das sogenannte „Projekt Ballhausplatz“.
Aus der Partei kam aber Gegenwind. Mächtige Figuren waren sich unsicher und Mitterlehner wollte Parteichef bleiben. Kurz‘ Vertraute konnten die Umfragen nicht mit ÖVP-Geldern beauftragen. Deshalb die Idee mit dem Finanzministerium. Die Umfragen waren nämlich gar nicht immer zum Vorteil der ÖVP, oft haben sie ihr sogar geschadet.
Die Umfragen sollten beweisen, dass die Volkspartei mit Mitterlehner an der Spitze keine Chance auf einen Wahlsieg habe, mit Kurz allerdings schon. So sollte – laut Verdacht der WKStA – intern Druck auf Mitterlehner aufgebaut werden.
Parteistellung und Akteneinsicht
Wie kam es jetzt zu den Gerüchten der Hausdurchsuchung? Die Antwort ist ziemlich einfach: im Casinos-Verfahren wird gegen mehrere Personen ermittelt, sogenannte Verfahrensparteien. Damit sich diese Parteien gegen die Vorwürfe verteidigen können, haben sie und ihre Anwält:innen Akteneinsicht. Sie sehen also Teile dessen, was die Staatsanwaltschaft schon alles ermittelt hat. Und bei der langen Liste an Beweisen gibt es auch Dinge, die die Parteien noch nicht sehen dürfen. Dinge, die die Staatsanwaltschaft noch ermittelt muss – und Dinge, bei denen sie Hausdurchsuchungen oder Beschlagnahmungen geplant hat.
Personen mit Parteistellung wissen also, dass sie noch nicht alles einsehen können und dass da noch etwas passieren wird. Es gibt also viele Personen mit Verbindungen zur ÖVP und Journalist:innen, die ahnen konnten, was passieren wird. Dass die Staatsanwaltschaft oder das Justizministerium etwas verraten hat, ist unwahrscheinlich.
Die Beschuldigten
Die WKStA beschuldigt insgesamt zehn Personen, darunter Sebastian Kurz, Thomas Schmid und andere enge Vertraute des ÖVP-Parteichefs. Wolfgang und Helmuth Fellner, die Verantwortlichen bei „Österreich“, sind ebenso als Beschuldigte geführt, wie die frühere Familienministerin Sophie Karmasin und die Meinungsforscherin Sabine Beinschab. Beinschab wurde am 12. Oktober wegen dem Verdacht der Verdunkelung festgenommen.
Sebastian Kurz trat am 9. Oktober zurück, bleibt aber Parteiobmann und wurde zum neuen ÖVP-Klubobmann gewählt. Die Vorwürfe weist er zurück.
Der frühere ÖVP-Klubobmann August Wöginger und der neue Bundeskanzler Alexander Schallenberg sprechen von konstruierten und falschen Vorwürfen.