Kurz erklärt: Die Archivgesetze in Österreich

Ob geschredderte Festplatten, gelöschte SMS oder nicht nachvollziehbare Terminkalender: Das Archivgesetz ist der heimliche Star der Diskussionen.

Ob geschredderte Festplatten, gelöschte SMS oder nicht nachvollziehbare Terminkalender: Das Archivgesetz ist ein Instrument, das Expert:innen und Oppositionspolitiker:innen immer wieder einsetzen, wenn sie die frühere schwarz-blaue Regierung unter Sebastian Kurz kritisieren.

Der Leiter des Evidenzbüros im Verwaltungsgerichtshof Hans Peter Lehofer hat vor kurzem kritisiert, dass SMS und Chatnachrichten von Regierungsvertreter:innen und hohen Beamt:innen nicht archiviert werden. Das führe zu „schwarzen Löchern in der Geschichtswissenschaft“, befürchtet der Rechtsexperte.

Warum das wichtig ist: Dabei geht es um mehr als um eine Frage für Historiker:innen. Die Dokumentation der Kommunikation zeigt, wie sich Politiker:innen im Amt verhalten haben, wie Gesetze zustande gekommen sind und wie die Verwaltung Österreichs arbeitet. Archive zeigen uns, wie das gesellschaftliche Leben in Österreich vor vielen Jahren gestaltet wurde und wie sich das noch heute auf uns alle auswirkt.

“Alles wird öffentlich – und alles, was in ein Archiv gekommen ist, ist als Kulturgut aufzubewahren. Das ist der wesentliche Sinn dieser Archivgesetze”

Heinrich Berg, Wiener Stadt- & Landesarchiv

Worum es grundsätzlich geht: Die österreichischen Archivgesetze haben zwei wesentliche Aspekte.

  1. Kulturgut wird gesammelt und Schriftstücke werden aufbewahrt, die historisch wichtig sind.
  2. Die Gesetze wirken auch als Transparenzgesetze: Die Pflicht zur Geheimhaltung fällt weg und wird zu einer Pflicht der Veröffentlichung.

“Alles wird öffentlich – und alles, was in ein Archiv gekommen ist, ist als Kulturgut aufzubewahren. Das ist der wesentliche Sinn dieser Archivgesetze”, erklärt Heinrich Berg, stellvertretender Direktor des Wiener Staats- und Landesarchivs (MA8).

Dabei hat die Allgemeinheit anfangs von diesen Regeln wenig: Das gesammelte Material bleibt für 30 Jahre verschlossen. Eine international übliche Frist. Neben dem Archiv, den Personen, die die Unterlagen zur Verfügung gestellt haben und – etwas eingeschränkt – der Wissenschaft, hat niemand Zugang. “Man schützt alle Betroffenen oder die Behörde selbst und nach 30 Jahren darf jede:r alles sehen. Personenbezogene Daten nach der DSGVO sind überhaupt bis auf Lebenszeit geschützt”, sagt Berg.

Foto: Carolina Prysyazhnyuk (CC BY-SA 2.0) | Komposition: Res Publica

In Österreich gibt es zehn unterschiedliche Archivgesetze: eines für den Bund und neun für die Bundesländer. Das wirkt auf den ersten Blick überschießend, muss aber wegen Verfassungsbestimmungen so geregelt werden. Weil sich Bund, Länder und Gemeinden hier selbst Regeln auferlegen, müssen sie das auch selbst gesetzlich verankern. Das Archivgesetz im Burgenland gilt zum Beispiel erst seit dem 19. Dezember 2020, das Bundesarchivgesetz seit 1. Jänner 2000.

Das Österreichische Staatsarchiv ist mit dem Bundesgesetz grundsätzlich zufrieden. „Das Bundesarchivgesetz hat das Archivwesen des Bundes in Österreich erstmals auf eine gesetzliche Grundlage gestellt und bietet dem Österreichischen Staatsarchiv durch die gesetzliche Verankerung der Nutzung von Archivgut des Bundes die Möglichkeit, kunden- und serviceorientiert zu arbeiten“, so das Staatsarchiv in einer Stellungnahme. (Die Frage, was man verbessern könnte, wollte es nicht beantworten.) Als das Gesetz eingeführt wurde, war Österreich eines der letzten Länder der EU, das noch keine gesetzlichen Regelungen für seine Archive hatte.

Die einzelnen Gesetze in den Ländern führen mitunter zu komplett unterschiedlichen Regeln. Da geht es um viele Detailfragen, wie Fristen oder wie Rechte durchzusetzen sind. Es gibt aber auch gravierende Unterschiede in ganz grundlegenden Fragen:

  • In Oberösterreich sind die Archivare weisungsfrei, die entscheiden, was ins Archiv kommt. So wird ausgeschlossen, dass eine Dienststelle den Archiven vorschreibt, was vernichtet werden muss.
  • In Vorarlberg sind die Schutzfristen um zehn Jahre kürzer. Dort wird alles nach 20 Jahren öffentlich.
  • In Salzburg gehen die Dokumente von Politiker:innen und deren Kabinetten nicht unbedingt an das Landesarchiv, sondern werden teilweise privaten Sammlungen übergeben. Das war ein Kompromiss mit der Salzburger Politik, damit sie sich den Archivpflichten überhaupt unterwirft. „Ich bin sehr froh, dass es das Archivgesetz gibt, weil es auf der einen Seite für die Bürger:innen die rechtlichen Rahmenbedingung für die Benützung dieser Archive und die Einsichtnahme in die dort gelagerten Archivalien schafft – inklusive des Beschreiten des Rechtsweges. Auf der anderen Seite sichert es das Landesarchiv ab und schafft klare ‚Spielregeln‘ im Bereich der öffentlichen Archive“, sagt Oskar Dohle, Leiter des Salzburger Archivs.

Archivgesetze haben auch ihre Probleme:

  • Das Staatsarchiv ist (in Archivfragen) keine Behörde. Sie darf also keine Bescheide ausstellen.
    Bürger:innen können aber erst um ihr Recht kämpfen, wenn sie einen Bescheid ausgestellt bekommen. “Das ist innerhalb der Archivgesetze der größte Kritikpunkt, der immer wieder auftaucht”, so Berg. Landesarchive dürfen hingegen Bescheide ausstellen – und Bürger:innen können die Entscheidung von einem Gericht überprüfen lassen. Eine Anfrage, ob das Staatsarchiv hier ein Problem sieht, blieb unbeantwortet.
  • Es werden keine SMS oder E-Mails archiviert.
    “Ich kenne kein großes Archiv in Österreich, das E-Mails als E-Mails archiviert”, sagt Berg. In Zeiten, in denen sich die Kultur in der Verwaltung ändert und immer häufiger über E-Mails und SMS kommuniziert wird, wird das zunehmend zu einem Problem. Eigentlich müssen Akte so geführt werden, dass Entscheidungen nachvollziehbar erklärt werden. “Das ist der Punkt, wo wir ansetzen. Wir archivieren Akten und man kann über Jahrzehnte beobachten, dass es Wesentliches gibt, das nicht in Akten kommt”, so Berg.

    Das zeigt sich auch schon im Entstehungsprozess aktueller Gesetze: Der Verfassungsgerichtshof hat 2020 einige der Covid-Verordnungen des Gesundheitsministeriums auch deswegen zurückgenommen, weil die Entscheidungsgrundlagen in den Akten nicht gut genug dargestellt waren.

    Und noch ein Beispiel: Ein Wiener Beamte, der 2015 während der großen Flüchtlingsbewegung viele Entscheidungen treffen musste, hat seine SMS ausgedruckt und in den Akt gelegt, um die Entscheidungsgründe zu dokumentieren.

„Wenn jemand etwas vernichtet, kann man ihm nur zuschauen“

Heinrich Berg, Wiener Stadt- & Landesarchiv
  • Die Archivgesetze wurden so gebaut, dass es keine Strafen gibt.
    Sie sind Willenserklärungen der handelnden Personen und Behörden. Als Bürger:in kann man nur hoffen, dass sie sich an ihre Archivpflichten halten. „Wenn jemand etwas vernichtet, kann man ihm nur zuschauen“, so Berg. International ist das mitunter viel strenger geregelt: “Rund um den amerikanischen Präsidenten darf kein wie auch immer geartetes Schriftstück verschwinden“, meint der stellvertretende Direktor des Wiener Landesarchivs weiter.
  • Die handelnden Personen entscheiden selbst, was sie archivieren lassen.
    Welche Dokumente dem Archiv angeboten werden, entscheiden die leitenden Personen der jeweiligen Stellen selbst. Darauf haben die Archive keinen direkten Einfluss. „Da gibt es ein offenes Problem, das ist richtig“, sagt der stellvertretende Direktor des Wiener Archivs. Die Frage, ob das Staatsarchiv hier ein Problem sieht, blieb unbeantwortet.

    Im Gesetz wurden auch noch ein paar Sicherheitsmechanismen eingebaut, damit Politiker:innen und ihre Kabinette nicht zu viel preis geben müssen: Sie müssen ihre Akte versiegeln lassen, so hat nicht einmal das Archiv selbst Einblick. Dazu Berg: „Was er dort hineinpackt, ist drinnen und was er dort nicht hineinpackt, ist nicht drinnen.“ Und das Staatsarchiv: „Akten der politischen Kabinette werden auf Grundlage des Bundesarchivgesetzes versiegelt übergeben. Davon abgesehen ist das angebotene Aktenmaterial aus den Ressorts dem Österreichischen Staatsarchiv in seinen Grundzügen bekannt.“

    Und der Bundeskanzler hat im Vorfeld das Recht, festzulegen, was archivierwürdig ist. Dieser Teil des Gesetzes wurde von der „Österreichischen Akademie der Wissenschaften“ 1999 heftig kritisiert. Darin verberge sich die Gefahr einer politischen Selektion, befürchtete die ÖAW.

So könnte man einige Probleme lösen: Um auf die neue Kultur der Verwaltung zu reagieren, könnten Archive vermehrt auf die Archivierung von E-Mails und SMS bestehen. Zumindest bei oberen Führungsebenen. „Vom Gesetz her wäre es denkbar, denn es spricht ja nur von schriftlichen Unterlagen. De facto passiert es nur nicht“, sagt Berg.