Deutschland im Jahre 1930: Der Reichspräsident der Weimarer Republik, Paul von Hindenburg, entmachtet das Parlament und installiert sein eigenes “Präsidialkabinett”. Er regiert mit Notverordnungen. Zwei Jahre später will Hindenburg Kontrolle über die preußische Polizeibehörde bekommen. Deshalb tauscht er die oppositionelle Landesregierung gegen den loyalen Reichskanzler Franz von Pappen aus. Das alles geschieht im Rahmen der Verfassung. Ein als “Diktatur-Artikel” bekannter Passus sollte Ordnung und Sicherheit bewahren. Er war zur Absicherung der Demokratie gedacht, eingesetzt wurde er fürs Gegenteil.
Noch heute gilt die Weimarer Republik als Paradebeispiel für eine Entdemokratisierung, die von den gewählten Vertretern des Volkes angestoßen wurde. Der Niedergang der Weimarer Republik endete mit der Machtübernahme der NSDAP 1933. Begonnen hat er mit dem Bruch von Normen und unausgesprochenen Gesetzen.
Ein Problem ohne Namen
Wie komplex das Problem ist, zeigt schon, dass es im Deutschen keine gängige Bezeichnung für solche unausgesprochenen Regeln gibt: Was man im anglo-sächsischen Raum unter “Democratic Guardrails”, also frei übersetzt demokratische Leitplanken zusammenfassen kann, wird bei uns schwammig. Softfaktoren, Spielregeln, Normen, Usancen. Alle beschreiben einen gewissen Teil, doch sie bedeuten für jede:n etwas anderes.
Es sind Werkzeuge, die man nicht verwenden sollte, obwohl man dürfte, wie der “Diktatur-Artikel” der Weimarer Republik. Aber auch die gelebte Praxis im Umgang miteinander, die den Respekt zwischen den Gewalten symbolisiert. Oder die gemeinsame Arbeit garantiert – wie die Sozialpartnerschaft in Österreich. Bei der Sozialpartnerschaft suchen Interessensgruppen wie Arbeitnehmer und Arbeitgeber zusammen nach Lösungen für Probleme.
Die unklare Definition im Generellen und ein fehlender deutscher Begriff im Speziellen sind für die Demokratieforscherin Daniela Ingruber von der Donau-Uni Krems ein “wunder Punkt” in der Demokratie. Der englische Begriff “Guardrails” sei kurz, nützlich und plakativ. Das macht die Suche nach einer deutschen Bezeichnung schwieriger, weil sich viele einfach mit dem englischen Begriff zufrieden geben. Nadja Meisterhans von der Karlshochschule in Karlsruhe spricht gegenüber ResPublica gerne von “Spielregeln”, doch auch das bringt Probleme mit sich. Spielregeln sind klar definiert – instinktiv denkt man an Gesetze, während “Guardrails” fließend verlaufen.
Kolja Möller vom Institut für Politikwissenschaft auf der Technischen Universität Dresden sieht einen Grund in der schwierigen Definition auch in der unterschiedlichen Geschichte der politischen Systeme: „Während man im Englischen – vor allem in den USA – über diese zivil-republikanische Tradition kommt, in der Politik sehr stark von unten organisiert wird, gibt es in Österreich und Deutschland eine starke Verfassung des politischen Prozesses.“ Das heißt: Für Vorgänge in einer Partei gibt es bei uns mehr Regeln als in den USA. Das deutsche Parteiengesetz verlangt etwa, dass die Liste einer Partei demokratisch gewählt werden muss. “Es gibt Anforderungen, die eine autoritäre Führerpolitik zwar nicht verunmöglichen, aber einschränken”, erklärt der Politikwissenschaftler. In den USA gebe es eine viel “stärkere Diskussion über Tugenden und Umgangsformen und Arten des Gesprächs.” Die verschiedenartige politische Kultur könnte auch die unterschiedliche Gewichtung dieser Normen erklären.
Thüringen: Zwischen demokratischen Prozess und Tabubruch
Ein deutsches Beispiel für “Guardrails” findet Möller trotzdem. Und zwar in Thüringen: Dort kam es zu einem Skandal, als nach der Landtagswahl Anfang 2020 nicht Bodo Ramelow, Kandidat der stärksten Partei “Die Linke” zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, sondern mit den Stimmen der “Alternative für Deutschland” (AfD) der Kandidat der 5-Prozent-Partei FDP, Thomas Kemmerich. Nach heftigen Protesten im In- und Ausland trat Kemmerich nach wenigen Tagen wieder zurück und entschuldigte sich für sein Verhalten.
Sich von Rechtsextremen zum Ministerpräsidenten wählen zu lassen, ist komplett verantwortungslos. Gegen die AfD müssen alle Demokraten geschlossen zusammenstehen. Wer das nicht versteht, hat aus unserer Geschichte nichts gelernt. #Thüringen
— Heiko Maas 🇪🇺 (@HeikoMaas) February 5, 2020
Die Wahl in Thüringen gilt in Deutschland als Tabubruch, weil es die erste Kooperation von bürgerlichen Parteien mit Rechtsextremen war. „Sich von Rechtsextremen zum Ministerpräsidenten wählen zu lassen, ist komplett verantwortungslos. Gegen die AfD müssen alle Demokraten geschlossen zusammenstehen. Wer das nicht versteht, hat aus unserer Geschichte nichts gelernt“, sagte etwa der deutsche Außenminister Heiko Maas. In der CDU gab es wegen der Wahl des FDP-Kandidatenmehrere Rücktritte, Angela Merkel warf sogar den Ostbeauftragten der Bundesregierung hinaus, nachdem er Kemmerich zur Wahl gratuliert hat. Der FDP-Parteichef Christian Lindner stellte seiner Partei unterdessen die Vertrauensfrage.
„Durch die Verletzung dieser ‘Guardrail’ und der Gegenwehr ist es zu einer Bestärkung gekommen.“
Kolja Möller
“Man dachte schon, dass die Nicht-Kooperation mit Faschisten oder Rechtsextremen – in Deutschland die AfD –ein ‘Guardrail’ sei”, sagt Möller. Der Politikwissenschaftler sieht die Folgen der Ereignisse aber positiv. „Wir hatten 2015 eine Phase, in der sich viele gefragt haben, ob man nicht mit der AfD zusammenarbeiten könne. Durch die Verletzung dieser ‘Guardrail’ und der Gegenwehr ist es zu einer Bestärkung gekommen.“ Der Bruch mit einer Norm hat in diesem Fall gezeigt, wie wichtig sie ist.
Normenbruch ein “Prozess der Eskalation”
Der US-Forscher Steven Levitsky beschreibt den Bruch solcher Normen als „Prozess der Eskalation, der mit Kleinigkeiten beginnt und in einem Coup endet“. Ein Beispiel von vielen sei 2017 die Entlassung des FBI-Chefs James Comey durch den damals neuen US-Präsidenten Donald Trump gewesen. Bis dahin galt es als ungeschriebenes Gesetz, dass der Chef des FBI nur im äußersten Notfall entlassen wird. So sollte verhindert werden, dass Exekutivbehörden zum politischen Spielball werden.
Die Folgen solcher Eskalationen beginnen beim Vertrauensverlust in Behörden. Enden können sie in Gewalt. “Die Gewalt tritt als unmittelbar erfahrbare Komponente wieder ins politische Leben ein”, so der Möller und bezieht sich auf Morddrohungen und Rechtsterrorismus in Deutschland.
In Kassel wurde der deutsche CDU-Politiker Walter Lübcke von einem Rechtsradikalen erschossen. Bei Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen in Berlin waren Demonstrant:innen mit der schwarz-weiß-roten Fahne des dritten Reichs auf den Stufen des Reichstags zu sehen.
In den USA besetzten bewaffnete Gruppen in Michigan ein Regierungsgebäude und nach der US-Präsidentschaftswahl bekamen Mitarbeiter:innen der Wahlbehörde mehrfach Morddrohungen. Trump weigerte sich seine ganze Präsidentschaft lang, sich von gewaltbereiten Miliz-Gruppierungen und Verschwörungstheoretiker:innen zu distanzieren. Am 6. Jänner 2021 stürmten seine Fans schlussendlich den US-Kongress. Mehrere Menschen starben.
Der brasilianische Präsident Bolsonaro meinte im Wahlkampf 2018, dass politische Gegner erschossen werden sollten. Anfang 2020 sprach er von einer „finalen Lösung“ und meinte dabei Mitglieder in Brasiliens Kongress und die Hinrichtung von Richter:innen des Obersten Gerichtshofes.
Die mexikanische Regionalregierung in Veracruz hat eine eigene Abteilung ins Leben gerufen, um politische Mitbewerber:innen, Aktivist:innen und Journalist:innen zu überwachen. Dort haben Politiker Telefone anzapfen und Informationen zum sexuellen Privatleben sammeln lassen.
Der fehlende politische Diskurs
Weil diese Regeln für eine Demokratie so wichtig sind und eine andauernde Verletzung so eskalieren kann, hält auch der Rechtsprofessor Tim Wu diese ungeschriebenen Regeln in den New York Times für eine Lebensversicherung einer Demokratie. Er meint, dass es eben diese ungeschriebenen Gesetze waren, die Trumps Griff nach unbegrenzter(er) Macht noch im Zaum gehalten haben – und nicht (nur) das so viel gelobte, ausgeklügelte Checks-and-Balances-System der US-Verfassung. „Checks and Balances“ beschreibt die Gewaltenteilung, mit der die Arbeit einer Regierung kontrolliert wird.
„Demokratie ist darauf angewiesen, dass wir öffentliche Diskurse haben, die sich an bestimmten Fairnessregeln orientieren.“
Nadja Meisterhans
„In Wirklichkeit sind es die erweiterten Säulen der Demokratie, die so ins Wanken geraten, obwohl die Handlung erlaubt ist“, sagt Ingruber in Anspielung auf diese Gewaltenteilung. Normen, die zwar erlaubt aber auch problematisch sind, finden sich häufig in gesetzlich nicht geregelten Bereichen. Als Beispiel nennt die Forscherin die politische Kommunikation: „Da habe ich das Gefühl, Politik wird zu etwas, bei dem es nicht mehr darum geht, was in der Verfassung festgeschrieben ist. Sondern um das Beibehalten der Macht oder dessen was man erreicht hat.” Beispiele seien eine Regierung, die sich nicht mehr dem Diskurs im Parlament stellt. Oder Institutionen, die einzelne Medien nicht mehr zu Pressekonferenzen einladen. Aber auch Parteifreunde, die Posten bekommen, für die ihnen die Qualifikation fehlt – auf österreichisch verharmlosend Freunderlwirtschaft genannt.
Es ist auffallend, dass Ingruber nicht die einzige Expert:in ist, die im Gespräch mit ResPublica über Diskurs spricht. Auch Meisterhans sieht Diskurs als zentrales Element: „Demokratie ist darauf angewiesen, dass wir öffentliche Diskurse haben, die sich an bestimmten Fairnessregeln orientieren. Was bedeutet es für eine Demokratie, wenn sich die Regierung nicht mit Kritik auseinandersetzen muss, weder im Parlament noch in der Öffentlichkeit?” Bürger:innen falle es dadurch immer schwerer, Entscheidungen nachzuvollziehen und politische Prozesse zu verstehen.
Ähnlich der Rechtswissenschaftler Stephan Vesco von der Universität Wien: „Ich sehe die Gefährdung eher im politischen Diskurs, der nicht mehr geführt wird. Es gibt zwar einen gewissen Antagonismus zwischen Ansichten. „Es wird zwar noch über Ansichten gestritten, die Sichtweise der anderen Seite aber nicht mehr anerkannt.” Dass Fakten ignoriert werden, wie man es in den USA, Brasilien, Großbritannien oder Polen beobachten kann, führe laut Vesco also zum Verlust der gemeinsamen Gesprächsbasis. Das fehlende Verständnis wird zum Einfallstor für populistische Bewegungen.
Das Recht kann uns nicht helfen
Für kurzfristigen Erfolg werden also immer wieder Normen gebrochen. Doch am Ende schwächen sich Parteien und Institutionen nicht nur selbst, sondern auch das demokratische System des eigenen Landes an sich, so Ingruber. Wie damals in der Weimarer Republik: Hindenburgs Versuch, mit dem „Diktaturartikel“ mehr Macht zu bekommen, hat das ganze System geschädigt. Kurz danach verwendete Adolf Hitler das gleiche Gesetz, um sich die eigene Macht zu sichern.
Gesetze alleine können eine Demokratie nicht vor Entdemokratisierung bewahren, sie können sie maximal verlangsamen. Das zeigt auch eine Studie der UCLA aus 2018, die zu dem Schluss gekommen ist, dass Gerichte nicht ausreichen, um Regierungen im Zaum zu halten.
Der Grund dafür liegt wieder im Ungeschriebenen: Ein Gericht kann nur anhand der Gesetzeslage urteilen. Wie die Gesetze zustande kommen, ist egal. Ein demokratisches System kann schon innerhalb des gesetzlichen Rahmens angegriffen werden. Deshalb darf die Zivilgesellschaft nicht erst hinschauen, wenn Gesetze gebrochen werden. Je öfter diese “Guardrails” ignoriert werden, desto mehr erodiert die Demokratie.
In Rumänien gingen 2017 Tausende Menschen auf die Straße, weil die Regierung mehr Kontrolle über die Justiz bekommen wollte. Die Staatsanwaltschaft hätte nicht mehr bei Korruption von Verwaltungsbeamten ermitteln dürfen. Die Pläne der damaligen Regierung konnten nur verhindert werden, weil Rumäniens Präsident das Gesetz nicht unterschrieben und die EU mit Konsequenzen gedroht hat. 2019 hat die rumänische Regierung das Gesetz schlussendlich zurückgezogen. Aber es hat gezeigt, wie schnell Regierungen die Justiz schwächen können.
Auch der Konflikt zwischen Preußen und der Weimarer Republik kam 1932 vor ein Gericht. Der Staatsgerichtshof in Leipzig kam zu dem Schluss, dass die Landesregierung Preußens wieder eingesetzt werden müsse. Reichspräsident Paul von Hindenburg ignorierte das Urteil einfach. Das Ende der Weimarer Demokratie war beschlossen.