
Zur Person
Daniela Ingruber ist Demokratie- und Kriegsforscherin an der Donau-Universität Krems mit den Schwerpunkten Demokratieverständnis, dystopische Demokratie, Medien, Konflikttransformation und politische Bildung. www.nomadin.at
Im Grünen Klub hat sie einige Zeit für Alexander Van der Bellen und Ulrike Lunacek gearbeitet.
© Ramona Waldner
ResPublica: Frau Ingruber, schützen Demokratien vor Krieg?
Daniela Ingruber: „Es ist einmal der Satz herumgegeistert, dass Demokratien keine Kriege führen und dass man in der Demokratie deshalb sicherer vor Krieg wäre. Nicht nur das aktuelle Beispiel zeigt, dass das falsch ist. Demokratien führen sehr wohl Kriege. Es gibt sogar Statistiken, dass Demokratien sehr exzessiv in Kriege verwickelt sind. Aber prinzipiell lebt man in einer Demokratie selbst im Krieg anders als in einer Diktatur.
Ich finde, dass Putin einen sehr interessanten Moment gewählt hat: Am wahrscheinlichen Ende der Pandemie, wo es das Gefühl gab, aus dem Krisenmodus herauszukommen, wo man nicht mehr so aufpasst. In der Konfliktforschung gibt es die These, dass die gefährlichste Zeit am Ende eines Konfliktes kommt, wenn der Frieden schon greifbar nahe ist. Während dieser Zeit sind Menschen unvorsichtiger und schon sehr erschöpft. Dadurch werden sie viel leichter getriggert und traumatisiert. In genau dieser Phase greift Putin jetzt an.
Gleichzeitig sind Demokratien in ganz Europa geschwächt. Wer auf sozialen Medien oder Telegram unterwegs ist, sieht, dass Putin zum Teil jene Menschen recht geben, die sich während der Pandemie vom demokratischen Konsens abgespalten haben. Da glaubt man einem Diktator mehr als den eigenen Politiker:innen, weil man so viel Vertrauen verloren hat. Diese Polarisierung nützt Putin.“
Wie laufen Konflikte generell ab? Was sagt die Forschung diesbezüglich?
„Es gibt viele unterschiedliche Modelle, die aber nicht mehr akkurat sind, weil Medien heutzutage einen viel größeren Einfluss haben als früher. Ein Aspekt, der bisher unterbelichtet ist, ist die Diskrepanz zwischen Realität und der Wahrnehmung der Realität. Sprich: Was hält jemand für die Realität? Das Gefährliche ist ja oft nicht die Realität, sondern die Wahrnehmung. Das lässt sich auf Putin gut umsetzen. Diese Kränkung des Ostens im Jahr 1989, die im Westen ein Freudenfest der Freiheit war, wurde nicht mit bedacht. Man hat einen Sieg gefeiert, ohne auf die Konsequenzen zu schauen. Viele Medien weisen darauf hin, dass Putin immer noch mit dieser Demütigung lebt und eine offene Rechnung hat. Das betrifft aber auch die Bevölkerung.
Das wird in Konflikten häufig missachtet, weil man nur über Tatsachen spricht. Tatsache ist, dass die russische Föderation keine Angst vor der Ukraine haben muss. Gefühlt wird es aber schon so, weil die Ukraine als dieses Einfallstor des Westens gesehen wird, wenn man noch im Modell des Kalten Krieges denkt. Und dann hat Putin auch Angst vor der Ukraine und der dortigen Demokratie, die sein eigenes System schwächen könnte. Man muss deshalb darauf achten, was die unterschiedlichen Parteien fühlen und glauben. Daraus ergibt sich die Erzählung. Und wenn sich die gefühlte Realität nicht mehr mit der Realität vereinbaren lässt, wird es kritisch. Das hatten wir eigentlich offen vor uns liegen: spätestens seit der Krim-Annexion 2014.
Wir haben einfach nicht für möglich gehalten, dass wir in Europa wieder mit Krieg konfrontiert werden könnten – abgesehen von Ex-Jugoslawien. Ich kann auch kein Modell anbieten, wie es weitergehen wird, denn dabei gibt es nun zu viele Möglichkeiten.“
Warum hat Putin Angst vor der Demokratie?
„Hannah Arendt gibt hier die perfekte Antwort: Der Unterschied zwischen Macht und Herrschaft ist, dass man Macht von der Bevölkerung geliehen bekommt – in einer Demokratie durch Wahlen. Die Bevölkerung kann die Macht aber auch wieder wegnehmen. In der Demokratie geht das leicht, in der Diktatur ist das schwieriger. Aber: Wenn man sich die verschiedensten Diktaturen der Geschichte ansieht, sieht man, dass jede an diesem Punkt gescheitert ist. Nämlich: Die Bevölkerung hat aufgehört Angst zu haben und die Führung nicht mehr mitgetragen.
„Hannah Arendt gibt hier die perfekte Antwort: Der Unterschied zwischen Macht und Herrschaft ist, dass man Macht von der Bevölkerung geliehen bekommt.“
Daniela Ingruber auf die Frage, wieso Putin die Demokratie fürchtet
Dagegen kämpft Putin ja auch. Salopp gesagt, geht es der russischen Föderation wirtschaftlich gerade nicht toll. Da kann Putin seiner Bevölkerung wenig bieten. Es wurde gerade eine Statistik veröffentlicht, dass das Vermögen der Oligarchen größer ist als das Bruttoinlandsprodukt Russlands. Putin muss seiner Bevölkerung etwas anderes als Geld und Luxus bieten, den man sich nach 1989 erwartet hat. Das kann mit Nationalstolz funktionieren.“
Gibt es einen Unterschied zwischen solchen „starken Männern“ in Autokratien und Demokratien?
„In Demokratien hat die Meinung der Bevölkerung viel mehr Gewicht. Die Regierenden in einer Demokratie müssen immer befürchten, dass sich die Bevölkerung gegen einen Krieg wendet. So passiert in Vietnam. Das kann einem in einer Diktatur weniger passieren.
Demokratien suchen auch viel länger nach einem Ausweg und haben oft viel geringere Militärbudgets. Das stimmt für die USA jetzt natürlich überhaupt nicht, aber Deutschland ist ein gutes Beispiel.
Innerhalb der Europäischen Union ist man ja nach wie vor stolz darauf, dass die Europäische Gemeinschaft als Friedensprojekt gegründet worden ist. Dieser Frieden ist für jede Regierung wichtig. Als EU-Staat in den Krieg zu gehen, bedeutet ganz etwas anderes als für einen Staat aus der ehemaligen UdSSR.“

Russlands Angriffskrieg wird ja als Putins Krieg bezeichnet. Sind Demokratien weniger anfällig für Befindlichkeiten Einzelner?
„In Demokratien spielen natürlich auch Befindlichkeiten eine Rolle aber selten regieren Personen so lange, abgesehen von der langjährigen deutschen Kanzlerin Angela Merkel. Diese unumschränkte Herrschaft, die Putin hat, gibt es in der Demokratie nicht. Ein:e Kanzler:in oder Premierminister:in kann nicht einfach entscheiden, dass es jetzt Krieg gibt und dem Verteidigungsminister anschaffen, das zu organisieren. Schon allein, weil Minister:innen in den meisten Ländern nicht direkt dem Regierungschef Rechenschaft schuldig sind. Die können ihre eigene Meinung haben.“
Welchen Wert haben demokratische Institutionen in dieser Situation?
„Institutionen sind im Krisenfall besonders wichtig. Sie kontrollieren, ob es sich vielleicht nur um eine Befindlichkeit handelt. Institutionen können selbst dann etwas verändern, wenn sie den Krieg nicht aufhalten können. Auch im Nachhinein sind sie für die Aufarbeitung enorm wichtig – das wissen Regierende auch und sind dadurch etwas eingeschränkt.“
Ein funktionierendes Checks & Balances System also.
„Ja, genau.“
Wie können wir unsere Demokratie stärken? Diese Aufgabe liegt ja bei jede:r Einzelnen.
„Schön, wenn das jemand so sieht. So ist es. Vor einer Stunde hat mich eine Lehrerin angerufen und in den Unterricht eingeladen, damit die Schüler:innen genau das lernen: Wie kann ich Frieden und Demokratie stützen und wie können wir das System für die Zukunft stärken? Ich vertrete die Meinung, dass Bildung ganz viel ausmacht und dass es auch eine Medienbildung braucht. Wir müssen lernen, wie man mit Medien umgeht.
Es gibt Staaten, in denen es selbstverständlich ist, dass man in der Volksschule gewaltfreie Kommunikation lernt. In den USA versteht es sich von selbst, dass Schüler:innen lernen, wie man miteinander diskutiert, ganz ohne Gewalt. Sie lernen ihre Meinung zu behaupten, zu argumentieren und gleichzeitig auch zuzuhören und die Meinung anderer zu akzeptieren. Das gehört hier auch zu Friedenserziehung dazu.“
Und Abseits der Bildung: Was können die Bürger:innen tun?
„Man muss sich als Bürger:in auch bewusst sein, dass das eigene Handeln Konsequenzen hat. Es hat Konsequenzen, wen wir in den Gemeinderat wählen. Das verändert etwas. Das Wahlrecht und die Rechte und Pflichten innerhalb einer Gesellschaft müssen von Bürger:innen auch wahrgenommen werden. Die Demokratie in Europa wurde etwa zum Selbstbedienungsladen. Demokratie wird viel zu oft wie eine Art Plastik wahrgenommen, das man nach Belieben verbiegen und zerdrücken kann und doch am Ende wieder in seine ursprüngliche Form zurückspringt. Dem ist aber nicht so: Alles, was wir der Demokratie antun, hat Konsequenzen. Es bleiben Kratzer, Knicke, Dellen – die nicht wieder rausgehen. Und für alle Nachgeborenen ist das plötzlich normal und von dort aus wird weitergemacht…“
„Man muss sich als Bürger:in auch bewusst sein, dass das eigene Handeln Konsequenzen hat. Es hat Konsequenzen, wen wir in den Gemeinderat wählen. Das verändert etwas. Das Wahlrecht und die Rechte und Pflichten innerhalb einer Gesellschaft müssen von Bürgern auch wahrgenommen werden.“
Daniela Ingruber
Was für Pflichten haben Bürger:innen gegenüber der Demokratie?
„Die wichtigste Pflicht ist zu verstehen, dass Demokratie etwas ist, das nicht nur für mich gemacht wurde, sondern für alle. Demokratie kann nur funktionieren, wenn jede:r Einzelne auch an andere denkt und in ihrem:seinem Handeln so agiert, dass andere nicht verletzt und eingeschränkt werden. Das trifft auf die Freiheit und auf jedes einzelne Menschenrecht zu. Jeder hat diese Menschenrechte – in Österreich sind sie im Verfassungsrang.
Das bedeutet aber auch, dass ich sie bei anderen respektieren muss. Wenn man verstanden hat, dass es ein Geben und Nehmen ist – und ich sage Geben hier absichtlich zuerst –, dann stehen die Chancen gut, dass es ein demokratischer Staat bleibt.“
Spielen wir das am Begriff der Freiheit durch: Man hat auch die Pflicht das eigene Recht auf Freiheit proaktiv zurückzunehmen, um andere nicht zu gefährden?
„Ja, beziehungsweise: das Recht teilen. Im Deutschen gibt es ja das schöne Wort Teilhabe, das kaum mehr benützt wird. Erst durch das Teilen entsteht die Freiheit. Wer allein auf einer Insel sitzt, ist nicht frei, sondern einsam und in seinem Wirkungskreis begrenzt. Freiheit spürt man immer erst in einer Gemeinschaft, Freiheit braucht also die Gesellschaft.
Im Notfall können die, denen es besser geht, sich in ihrer Freiheit auch einmal ein bisschen zurücknehmen.“
„Die wichtigste Pflicht ist zu verstehen, dass Demokratie etwas ist, das nicht nur für mich gemacht wurde, sondern für alle.
Daniela Ingruber
Wie wirkt sich eine gute politische Bildung im Großen aus?
„Es ändert sich das Bild der Beziehung zwischen Staat und Individuum. Menschen, die ein gutes Verständnis von Demokratie haben, treten dem Staat gegenüber auch anders auf. Nicht nur in Bezug auf Rechte und Pflichten, sondern sie wissen auch, was sie von gewählten Politiker:innen einfordern können. Sie sind definitiv mutiger, da sie auch die Institutionen kennen, auf die sie sich berufen können. Sie wissen, dass sie das Recht haben den Mund aufzumachen.
Da sind wir jetzt wieder bei der Autokratie, wo das ein schon fast lebensmüder Akt ist. Deshalb sind ja auch die Menschen in der Ukraine und vor allem in Russland zu bewundern, die trotzdem auf die Straße gehen, um gegen den Krieg zu protestieren.“
Durch die Bildung werden also auch Institutionen gestärkt?
„Genau. Im besten Fall sind auch Politiker:innen politisch gebildet. Ich habe immer wieder demokratische Trainings gemacht und war schon sehr überrascht, wie wenig manche von ihnen über unsere Verfassung und Grundrechte wissen.
Demokratie ist etwas, das man jeden Tag neu erkämpfen, ausprobieren und vor allem lernen muss. Das wird auch die politische Bildung nicht ändern. Es wird nur hoffentlich so sein, dass das den Menschen bewusst ist.“