6 Dinge, die man zur Wahl in Äthiopien wissen sollte

Ein Friedensnobelpreisträger, der im eigenen Land kämpft, Konflikte zwischen ethnischen Gruppen und Eritrea, das im Krieg mitmischt. Äthiopien ist ein Land der Konflikte. Aber: Was dort passiert hat Auswirkungen auf die ganze Region und Europa.

Am 21. Juni soll in Äthiopien endlich gewählt werden. Die Wahlen wurden schon zweimal verschoben, als Gründe wurde die Corona-Pandemie hergenommen. Ob das der tatsächliche Grund ist, kann bezweifelt werden. Überhaupt bleibt in dem Land, das der größte Player am Horn von Afrika ist, so einiges unklar: Äthiopien galt eine Zeit lang als demokratische Zukunftshoffnung in Afrika. Die junge Bevölkerung demonstrierte gegen ein repressives Regime, angeführt von der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF), das dem Druck nach knapp 30 Jahren an der Macht nachgeben musste.

Die Lage in Äthiopien ist kompliziert. Diese Aufzählung soll helfen, die Wahl besser einschätzen zu können:

1. Die Rolle von Präsident Abiy Ahmed

  • Die große Erzählung, die die Berichterstattung zu Äthiopien begleitet, ist die von Präsident Abiy Ahmed: Ein Friedensnobelpreisträger, der Krieg führt. Verliehen wurde ihm der Preis für das Friedensabkommens mit Eritrea, das einen jahrzehntelangen Konflikt beendet hat.
  • 2018 kommt Präsident Abiy Ahmed an die Macht und arbeitet gleich an einer Demokratisierung Äthiopiens. Er lässt politische Gefangene frei, beendet das staatliche Foltern und rückt bei Problemen nicht gleich mit der Armee aus. Er bietet der bis dahin regierenden TPLF sogar einen Platz in seiner neuen Parteienkoalition an.
  • „Niemand hat erwartet, dass sich Äthiopien entscheidet, die internen Probleme so gewaltvoll und militärisch zu lösen“, kommentiert Awol Allo, von der britischen Keele University die Entwicklung von Abiys Regierung. Nach dem Tod eines Oppositionsführers kommt es zu Massenprotesten auf die Abiy mit Gewalt reagiert. Hunderte Menschen wurden getötet, tausende eingesperrt, darunter viele Oppositionspolitiker und auch das Internet wurde eingeschränkt.
  • Nur ein Jahr nach seinem Friedensnobelpreis beginnt er eine militärische Offensive in der nördlichen Tigray-Region. Es gibt Berichte über Massenvergewaltigungen und Tötungen. Hilfsorganisationen werden nicht in die Region gelassen. Und Millionen Menschen sind auf der Flucht.

2. Ethnischer Föderalismus

  • Nach dem Sturz des sozialistischen Militärregimes 1991 wurde das Land in ethnische Regionen eingeteilt und bis 2019 von einem Zusammenschluss mehrerer Parteien regiert. Angeführt hat die Regierung die TPLF aus der Tigray-Region, die selbst nur sechs Prozent der Bevölkerung ausmacht. „Die Idee war Teilen und Herrschen“, erklärt Markus Mariacher von der Universität Wien.
  • Äthiopien ist ein Vielvölkerstaat mit 120 ethnischen Gruppen und 110 Millionen Einwohner:innen, die über 80 Sprachen sprechen. Nach Nigeria ist es das zweitgrößte Land Afrikas. „In der tausendjährigen Geschichte Äthiopiens gab es keine Konflikte nach ethnischen Linien, das ist seit 30 Jahren anders“, so Sonja John von der Universität Klagenfurt. Gleichzeitig ist die äthiopische Bevölkerung unglaublich jung. 45 Prozent sind unter 15 Jahren, die Mehrheit des Landes kennt also nur diese ethnische Einteilung.
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3. Wahlergebnisse von 99,6 Prozent

  • Äthiopien ist de facto ein Einparteiensystem. 1991 wurde das Land in ethnische Regionen eingeteilt und bis 2019 von einem Zusammenschluss mehrerer Parteien regiert. Angeführt hat die Regierung die TPLF aus der Tigray-Region, die selbst nur sechs Prozent der Bevölkerung ausmacht. „Die Idee war Teilen und Herrschen“, erklärt Markus Mariacher von der Universität Wien. „Von 2010 bis 2015 gab es im Parlament nur zwei oppositionelle Abgeordnete, alle anderen der 547 Sitze gingen an Regierungsparteien.“ Ergebnisse von 99,6 Prozent für die Regierungsparteien, wie das 2010 der Fall war, waren keine Seltenheit.
  • Von einer Demokratie kann keine Rede sein. Im Democracy Index der Economist Intelligence Unit belegt Äthiopien Rang 123 von 167. Es wird als autoritäres Regime eingestuft. Daran hat auch Abiy nichts geändert. Äthiopiens Wahl war eigentlich für August 2020 angesetzt, wurde allerdings auf den 5. Juni 2021 verlegt (und dann ein weiteres Mal auf den 21. Juni). Führende Oppositionspolitiker wurden verhaftet. „Das Ergebnis der Wahl wäre sehr klar, es wäre nur ein Ritual, um den Premierminister und seine Partei zu krönen“, so die Einschätzung des Forschers für Menschenrechte von der Keele University.
  • Für die Äthiopien-Expertin John sind Vergleiche mit früheren Wahlergebnissen nicht zulässig: „Abiy Ahmed wollte das System demokratisieren, es gibt jetzt auch Parteien, die nicht mehr rein ethnisch zusammengesetzt sind.“ Sie nimmt Abiy seine demokratischen Bemühungen ab, die Lage sei besser als noch vor fünf Jahren. Es gebe weniger Massenverhaftungen, Proteste nicht mehr bestraft und Menschen in Gefängnissen nicht mehr gefoltert werden.
  • Die EU hat unterdessen seine Wahlbeobachtungsmission abgebrochen, weil man sich mit Abiys Regierung nicht auf „Schlüsselparameter“ einigen haben können. Äthiopiens Außenminister meinte, die Entscheidung der EU sei „weder wichtig noch notwendig, um die Glaubwürdigkeit der Wahl festzustellen.“

4. Der Krieg in Tigray

  • Tigray ist die Region der früher herrschenden TPLF. Das Gelände in der Region ist sehr gebirgig mit vielen Höhlen – gut geeignet für einen langen Guerilla-Krieg. Laut John hat das militarisierte Äthiopien viele seiner Waffen in Tigray stationiert. Soldaten der TPLF haben so ein Militärlager am 3. November angegriffen, um an Waffen zu kommen. Selbst bezeichneten sie die Aktion einen „präventive Selbstverteidigung“. Mariacher bezeichnete das als „eine ganz klare Provokation“, obwohl es Gerüchte gegeben haben soll, dass Abiy einen Angriff plane.
  • Nur Stunden nach diesem Angriff hat die Regierung von Abiy das Internet und die Telekommunikation in der Tigray-Region abgedreht und mit einer Militäraktion begonnen. Die TPLF wurde als terroristische Vereinigung eingestuft und die New York Times berichteten schon im November 2020 von landesweiten Verhaftungswellen gegen Menschen aus Tigray.
  • „Es hat bis 2018 keinen friedlichen Machtwechsel in Äthiopien gegeben“, sagt John von der Universität Klagenfurt. „Was damals noch nicht klar war ist, dass 2018 nicht der Machtwechsel war, den Machtwechsel sehen wir jetzt.“
  • „Die Vereinigten Staaten beschreiben das Geschehen in Tigray als ethnische Säuberung“, sagt Allo von der Keele University. Es kommt zu Massenexekutionen und Massaker und ein interner Bericht der US-Regierung kommt zu dem Schluss, dass Vergewaltigungen als Waffe eingesetzt werden. Ein Forscherteam der Universität Gent konnte Anfang April eine 1.900 Opfer von Massakern identifizieren. „Natürlich war die TPLF ein brutales Regime aber ich bezweifle, dass das einen Genozid in Tigray rechtfertigt“, so Mariacher.
  • John bezweifelt solche Berichte: „Er hat viel Gegenwind von der TPLF, die auch viele Falschanschuldigungen macht. Es ist natürlich schwierig zu sagen, dass ein Genozid nicht stattgefunden hat, von der TPLF wird aber auch sehr viel in Propaganda investiert, vor allem in der Diaspora.“ Sie verweist auf Massaker in anderen Regionen Äthiopiens, die von der internationalen Gemeinschaft unkommentiert geblieben sind.
  • Neben äthiopischen Truppen sind auch Armee-Einheiten aus dem Nachbarstaat Eritrea in Tigray. Auch sie werden für Plünderungen und Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht. Trotzdem müsse man sich auf lange Kämpfe einstellen, meint Mariacher. Die Landschaft ermöglicht einen Guerilla-Krieg der TPLF, die sich im Gebirge und Höhlen verstecken und so den Konflikt in die Länge ziehen könnten.
  • Internationale Hilfskonvois werden – wenn überhaupt – nur sehr eingeschränkt in das Land gelassen. In umkämpfte Gebiete gelangen sie nicht. Es gibt dadurch auch keine gesicherten Berichte über die Situation in diesen Regionen.

5. Ein Land vieler Krisen

  • Die Situation in Tigray hat zu vielen Flüchtenden geführt. Über zwei Millionen sind in das Landesinnere geflüchtet, viele wurden allerdings auch in den Sudan vertrieben. Gleichzeitig befinden sich rund 100.000 eritreische Flüchtlinge in Tigray.
  • Die NGO Ärzte ohne Grenzen schätzt, dass rund 4,5 Millionen Menschen unter einer Hungersnot leiden. Die UN meinte erst am 10. Juni, dass 350.000 Menschen am Verhungern seien und verlangte uneingeschränkten Zugang in die Region.
  • Als wäre das nicht genug, hat das Land noch andere Krisen zu bewältigen: Eine Heuschreckenplage befällt ganz Ost-Afrika und vernichtet Ernten. Das hat schon vor dem Konflikt zu einem Versorgungsproblem geführt.
  • Mittlerweile gibt es in ganz Äthiopien Zusammenstöße zwischen ethnischen Gruppen. Im Westen, genauso wie im Osten und Zentral-Äthiopien.

6. Destabilisierung der ganzen Region

  • Äthiopien ist ein Schlüsselfaktor der Friedensmissionen in Afrika. Über 6.000 Soldaten stellt das Land für UN-Friedensmissionen zur Verfügung. Die Konflikte im Land würden laut Allo sogar in Frage stellen, ob Äthiopien überhaupt als Land aus dieser Krise herauskommen würde. Es wäre genauso möglich, dass das Land in seine Staaten zerfällt.
  • Äthiopien galt als Partner der USA bis vor kurzem als Ruhepol in der Region. Jetzt musste das Land die Friedensbemühungen in Somalia zurückfahren und Truppen nach Tigray abziehen. Als Reaktion strömen islamistische Gruppierungen aus Somalia ins Land.
  • Das könnte laut Mariacher auch destabilisierende Wirkung auf das gesamte Horn von Afrika haben. Und damit den Zugang zum Suez-Kanal beeinflussen, der für das internationale Transportwesen und damit für Europa eine entscheidende Rolle spielt.
  • Gleichzeitig befindet sich das Land in einem Grenzkonflikt mit dem Sudan. Die äthiopische Amhara-Region beansprucht ein Gebiet für sich, das in einem Vertrag von 1902 nicht klar aufgeteilt worden ist. Nach dem Regime-Ende der TPLF scheint eine Chance gesehen zu haben, weil sie Druck auf Abiy ausüben kann. Der braucht die Unterstützung im Tigray-Konflikt.
  • Und dann gibt es da noch den GERD-Staudamm am blauen Nil: der größte Staudamm Afrikas sorgt seit Jahren für Streit zwischen Äthiopien, Sudan und Ägypten. Das Wasserkraftwerk könnte die Stromproduktion Äthiopiens verdoppeln, der Nil versorgt Ägypten aber auch mit Wasser. Der Nil ist für 97 Prozent der Wasserversorgung verantwortlich.
  • Zu guter Letzt gibt es eine weltweite Pandemie, die bekämpft werden muss. Äthiopien hat über 4.000 Tote zu beklagen. Knapp 275.000 waren laut WHO infiziert.

Ergänzung: Der diplomatische Dienst der Europäischen Union hat unsere Anfrage zu Äthiopien beantwortet und betont, dass die EU ein Ende der Kämpfe, einen Rückzug eritreischer Truppen, Zugang für Hilfsorganisationen und Ermittlungen wegen Menschenrechtsverletzungen fordert.

Die EU kritisiert die Regierung von Abiy Ahmed außerdem für „orchestrierte Demonstrationen mit Anti-EU Narrativen“ und das Nichtzustandekommen einer Wahlbeobachtung. Trotzdem habe die EU die äthiopische Wahlkommission mit 20 Millionen Euro unterstützt, so die Sprecherin weiter.

Für die EU ist es ein Fakt, dass äthiopische und eriträische Soldaten, genauso wie Milizen aus der Amhara-Region humanitäre Hilfe verhindern. Das betreffe auch Nahrung. Die EU-Sprecherin schreibt auch von „systematischen Plünderungen und der Zerstörung von Infrastruktur wie Krankenhäusern und Schulen“.

„Das Leid von Zivilist:innen und Kindern ist entsetzlich“, schreibt die EU-Sprecherin, die auch betont, dass sich die EU weiter für Gespräche und eine diplomatische Lösung der Konflikte einsetze und im ständigen Austausch mit der äthiopischen Regierung sei.