Bürger:innen müssen Gerichte, Staatsanwaltschaften aber auch Gesetze und Medien schützen – das können diese Institutionen nicht selbst tun. Auch Vereine und NGOs brauchen Hilfe, wenn sie von staatlichen Playern angegriffen werden. Wenn Politiker:innen Institutionen immer wieder angreifen, dann verlieren Bürger:innen das Vertrauen in diese Institutionen. Und dann sind demokratische Prozesse in Gefahr, die ein Gleichgewicht der Kräfte sichern sollen.
“Wir glauben nur zu gerne, Institutionen würden automatisch selbst noch den direktesten Angriffen standhalten”, schreibt Timothy Snyder, Professor an der Universität Yale , in seinem Bestseller Über Tyrannei: Zwanzig Lektionen für den Widerstand. Und weiter: “Der Fehler liegt in der Annahme, Machthaber, die durch Institutionen an die Macht kamen, könnten genau diese Institutionen nicht verändern oder zerstören – selbst wenn sie angekündigt haben, genau das zu tun.”
Wir haben vier Expert:innen gefragt, welche Institutionen sie in Gefahr sehen – und wieso. Das sind ihre Antworten.
1. Die Vereinten Nationen
Die Vereinten Nationen (UNO) sind entstanden, weil “man aus zwei Weltkriegen gelernt hat”, sagt die deutsche Demokratie-Forscherin Nadja Meisterhans. Vereinfacht gesagt ist die Idee der Vereinten Nationen, auf bestimmte Grundrechte aufzupassen und Konflikte zwischen Staaten friedlich zu lösen.
Die Vereinten Nationen (UNO) sind eine Organisation mit 193 Mitgliedsstaaten, die nach dem zweiten Weltkrieg entstanden ist.
Zu ihr gehören Organisationen wie die UNHCR, die sich um geflüchtete Menschen kümmern soll; die UNICEF, die sich um das Wohl von Kindern kümmern soll; die UNESCO, die sich um Bildung kümmern sollen oder die WHO, die sich um Gesundheit kümmern soll. Aber auch der Internationale Gerichtshof für Menschenrechte in Den Haag gehört zu den Vereinten Nationen.
Die Aufgabe der UNO: sich um bestimmte Grundrechte zu kümmern und Konflikte zwischen Staaten ohne Krieg zu lösen.
“Immer mehr Staaten ziehen sich zurück und erkennen die UNO nicht mehr an. Sie beschäftigen sich mit Eigeninteressen und nicht mehr mit einem Miteinander.”
Daniela Ingruber, Donau-Universität Krems
Je weniger Länder bei den Vereinten Nationen mitmachen, desto schwächer werden sie. Denn die Mitgliedstaaten finanzieren die einzelnen Unterorganisationen. “Wir haben Probleme, die machen nicht an Grenzen halt, da brauchen wir globale Lösungen, damit es nicht nur ein Recht des Stärkeren gibt. Diese Institutionen bedürfen aber die Unterstützung der Mitgliedstaaten”, meint Meisterhans.
Eine negative Vorbildwirkung sieht die Politikwissenschaftlerin Daniela Ingruber auch im Verhalten der USA unter US-Präsidenten Donald Trump, der sich aus mehreren internationalen Organisationen zurückgezogen und sie dadurch geschwächt hat. Nur wenn viele Länder mitmachen, hat die UNO genug Einfluss, um etwas zu bewirken.
Die USA sind 2017 aus der UNESCO (Bildung & Kultur) und 2018 aus der UNHRC (Menschenrechte) ausgetreten. Als Begründung gab die US-Gesandte an, dass man mit einigen Mitgliedern und Entscheidungen nicht zufrieden sei.
Außerdem trat Trump aus dem Pariser Klima-Abkommen aus, weil die US-amerikanische Wirtschaft darunter leiden würde. Trump leitete auch den Austritt aus der WHO ein, der aber erst nach seiner Amtszeit fertig vollzogen werden konnte. Am ersten Tag seiner Präsidentschaft machte der jetzige US-Präsident Joseph Biden diesen Schritt rückgängig und trat sowohl der WHO als auch dem Pariser Klima-Abkommen wieder bei.
2. Die Welt-Gesundheitsbehörde WHO
Für Meisterhans ist die WHO derzeit besonders gefährdet. Durch die Corona-Pandemie würden jetzt einige Fehlentwicklungen in den Fokus rücken. Eine davon sei die chronische Unterfinanzierung der WHO durch ihre Mitgliedsstaaten. So braucht die WHO auch private Geldgeber:innen. Österreich hat 2018 und 2019 nur 3,4 Millionen US-Dollar an die WHO gezahlt, die private Stiftung von Bill und Melinda Gates hat im gleichen Zeitraum 455 Millionen US-Dollar beigesteuert. Kritiker:innen sagen, dass private Geldgeber:innen deshalb zuviel Einfluss innerhalb der WHO hätten.
Die Weltgesundheitsbehörde (WHO) ist eine Unterorganisation der UNO, die auf Gesundheit und medizinische Versorgung spezialisiert ist. Ihr Ziel ist es, die Gesundheitsversorgung auf der ganzen Welt zu verbessern. Sie ist wesentlich im Kampf gegen das Corona-Virus, weil sie koordiniert und berät.
“Die WHO ist chronisch unterfinanziert und deshalb in Abhängigkeit vom Privatsektor geraten. Da ist derzeit Bill Gates stark in der Kritik – auch von Coronaleugnern und Verschwörungstheoretikern – obwohl man da eigentlich fragen muss, ob es nicht die Aufgabe der Staatengemeinschaft ist, für Strukturen zu sorgen, damit globale Krisen gar nicht entstehen. Man hat Corona lange ignoriert und dann ist es nicht einmal gelungen, eine europäische Gesundheitspolitik zu koordinieren. Das ist ein Beispiel dafür, wie Mitgliedstaaten versagen, überstaatliche Institutionen genug zu unterstützen.”
Nadja Meisterhans, Karlshochschule in Karlsruhe
3. Das Österreichische Parlament
Auch in Österreich gibt es Institutionen, die geschützt werden müssen. Dazu zählt auch das Österreichische Parlament, wenn es nach der Forscherin Daniela Ingruber geht: “Das Parlament schwächelt im Moment und wird geschwächt, indem es nicht ernst genommen wird.” Sie warnt davor, das Parlament zu entwerten. Denn es muss die Regierung kontrollieren, deren Pläne diskutieren und eine öffentliche Debatte führen.
In letzter Zeit habe man deutlich gesehen, dass Regierungsvertreter:innen seltener an Sitzungen des Nationalrates teilgenommen haben und sich Debatten teilweise entziehen würden. “Sebastian Kurz ist ja nicht dafür bekannt, dass er sich an parlamentarischen Debatten beteiligt”, sagt die deutsche Forscherin Meisterhans, die auch in Österreich lehrt. Politische Entscheidungsträger:innen könnten sich so ihren Rechenschaftspflichten entziehen, befürchtet sie. Und das sei ein großes Problem in einer Demokratie.
“In dem Moment, in dem eine Regierung oder die Leitung einer Regierung beschließt, nicht mehr wirklich hinzugehen, wird die Geringschätzung öffentlicher. Und dann zweifeln auch die Beobachter:innen.”
Daniela Ingruber, Donau-Universität Krems
Auch für Stephan Vesco von der Universität Wien sind fehlende Diskussionen ein Problem. Er spricht von einem “fehlenden Diskurs, der nicht mehr geführt wird”. In diesen Diskussionen gebe es zwar unterschiedliche Standpunkte, die Abgeordneten und Regierungsmitglieder würden sich aber als ebenbürtig wahrnehmen. Wer nicht mehr mitdiskutiert, rechtfertigt und erklärt sich nicht mehr, befürchtet Vesco. Die Folge: Aussagen ohne Grundlage, die scheinbar willkürlich getroffen worden sind. So könnte es passieren, dass Beobachter:innen die Diskussion nicht mehr nachvollziehen können. Das macht sie anfällig für Verschwörungstheorien und demokratiefeindliche Gruppierungen. Und das mache die Grundlagen kaputt, die das gemeinsame Zusammenleben sichern sollen, so Vesco.
4. Sicherheitsbehörden
Eine etwas andere Art der Bedrohung sieht der deutsche Populismus-Forscher Kolja Möller: In der Polizei, dem Bundesheer und der Justiz gibt es rechtsextreme Netzwerke. 2019 wurde bekannt, dass eine Gruppe von Rechtsradikalen in Deutschland Munition gesammelt und Todeslisten geführt hat. Darunter waren Polizist:innen, Soldat:innen und Mitglieder der Justiz. Und: Diese Netzwerke haben auch Verbindungen nach Österreich. Die Kleine Zeitung berichtete Anfang 2021 von einem Polizisten, der einer rechtsextremen Gruppierung Munition verkauft hat.
“Teile der Polizei, der Bundeswehr und des Justizapparates haben rechtsextreme Tendenzen. Das kommt aber nicht nur von oben. Es sind über Jahre gewachsene Netzwerke und Tiefenstrukturen, die der Staat jetzt aufzuklären hat.”
Kolja Möller, Technische Universität Dresden
5. Justiz
Bei Verfassungsgerichten gebe es in ganz Europa strukturelle Probleme, meint Möller weiter. Das Problem: wie Verfassungsrichter:innen rekrutiert und ausgesucht werden. Früher gab es meistens zwei große Parteien, die sich auf eine:n Kandidat:in einigen mussten. “Das führt meistens dazu, dass am Ende ein allgemein akzeptabler Kandidat rauskommt”, sagt Möller. In Zukunft könnte es aber passieren, dass auch die AfD Verfassungsrichter:innen nominieren kann, befürchtet Möller. Die AfD wurde vom deutschen Verfassungsschutz als “rechtsextremer Verdachtsfall” eingestuft. Das bedeutet, der Verfassungsschutz darf die Partei und ihre Mitglieder geheim überwachen. Ein Gericht hat das zwischenzeitlich verboten. (Nicht aus inhaltlichen Gründen, sondern weil die AfD durch das Bekanntwerden dieser Einstufung nicht mehr die gleichen Chancen wie andere Parteien hat.)
Auch in Österreich sehen Expert:innen die Justiz gefährdet. Der Jurist Oliver Scheiber hat auf Twitter vor den aktuellen Entwicklungen gewarnt. Das steht in Zusammenhang mit der Hausdurchsuchung der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) bei Finanzminister Gernot Blümel. Dessen Partei (ÖVP) hat in weiterer Folge die WKStA attackiert und eine Gesetzesänderung vorgeschlagen, die den Behörden eine Auswertung der gefundenen Daten erschweren würde.
Scheiber vergleicht die Situation mit Rumänien. Dort habe es vergleichbare “Attacken auf die Unabhängigkeit der Justiz” gegeben. Dagegen hätten dann 100.000 Menschen protestiert, so Scheiber. Er kritisiert außerdem Pläne der ÖVP, die der Kurier veröffentlicht hat. Demnach sollen Staatsanwaltschaften nicht mehr alle privaten und geschäftlichen Kommunikationen auswerten dürfen. Für Scheiber ist das “ein recht unverblümter Code für die Unterwerfung der Staatsanwaltschaften”.
Ähnliches sagt auch Elisabeth Lovrek, die Präsidentin des Obersten Gerichtshofs. Der Oberste Gerichtshof ist das oberste Organ, wenn es um Zivil- und Strafsachen geht. Sie kritisiert in einem Interview mehrere Politiker:innen für deren Aussagen zur Justiz und sieht eine rote Linie überschritten: “Es scheint fast so, als hätten manche Politiker ein gestörtes Verhältnis zu den Gerichten und Staatsanwaltschaften.”